Warum ich kein Demokrat mehr bin

Ich habe die Demokratie immer gemocht. Sie war das Richtige für mich. Diese Idee von Gleichheit und Freiheit, von Gleichheit der Chancen und der Freiheit, sich seines Verstandes unabhängig von anderen zu bedienen. Dieser Grundsatz, niemand habe eine privilegierte Position des Wissens, die ihm erlaubte, anderen zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Sich nur den Regeln zu unterwerfen, die wir uns selbst gegeben haben. Zuerst als Individuen und dann als Gesellschaft. Demokratie lebt von der Einsicht, dass Politik keine lösbare Aufgabe ist, dass sie nicht mit den Methoden wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung betrieben werden kann, dass es in ihr keine naturgesetzlichen Notwendigkeiten gibt.

Die einzige Notwendigkeit der Demokratie ist die Freiheit. Sie ist gelebte Aufklärung. Nun hat Deutschland seit dem März 2020 durch die Staatsmacht Einschränkungen der Freiheit erlebt wie seit dem Bau der Berliner Mauer nicht mehr. Einschränkungen der Freiheit, die mit naturgesetzlicher Notwendigkeit an bestimmte Messgrößen gekoppelt wurden und werden. Die Staatsmacht regiert mit Verordnungen und maßt sich Kompetenzen an, die sie nicht hat. Damit ist auch der demokratische Grundsatz der Gleichheit aufgegeben. Was wir erleben, ist Politik als Exekutivorgan von Wissenschaft. Das ist die Idee von Platons Staat: Dass Politik von einer kleinen Kaste besonders einsichtsfähiger Männer betrieben werde – er nannte sie Philosophen, wir nennen sie heute Wissenschaftler. Und wer ein solcher Wissenschaftler ist, können logischerweise nur die Wissenschaftler selbst bestimmen. Der platonische Wunderstaat setzt also etwas voraus, was er selbst erst schaffen müsste. Eine Unmöglichkeit. Wer dennoch den Platonismus in der Politik praktiziert, handelt demnach dogmatisch. Karl Raimund Popper hat daher Platon als ersten unter die Feinde der offenen Gesellschaft gerechnet.

Die Politik in Platons Staat ist vor allem Biopolitik und Hygienepolitik. Sie zielt, wie später die Naziideologie, auf Volksgesundheit. Und Volksgesundheit ist ebenso das Ziel gegenwärtigen politischen Handelns. Die Sache hat sich lange angebahnt, meine ersten Notizen zu dem Thema sind zehn Jahre alt, ich habe sie dann 2014 unter dem Titel „Die neuen Gärten Epikurs“ in meinem Buch Trampelpfade des Denkens publiziert. Die endgültige Herrschaft exklusiver Zirkel der Biopolitik, wie wir sie seit anderthalb Jahren erleben, habe ich in meinem letzten Buch Die ironische Existenz mit für mich selbst erschreckender Treffsicherheit vorhergesagt. Und es geht gerade so weiter: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO; Platon hätte sie nicht besser erfinden können) errichtet in Berlin mit 100 Millionen Euro Zuschuss der Bundesregierung ein Pandemiezentrum, das künftiges Infektionsgeschehen vorausberechnen soll.

Nach anderthalb Jahren Pandemiepolitik wäre es vor der anstehenden Bundestagswahl eigentlich geboten, sich als Volk Rechenschaft darüber abzulegen, in welchem Land, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Die Frage nach der Freiheit erneut und vehement zu stellen. Aber nichts davon. Der Wahlkampf macht um dieses Thema einen großen Bogen. Man faselt von Renten, Arbeitsplätzen, Digitalisierung und Klimaschutz. Das Volk vertreibt sich derweil die Zeit mit Fakten-Checken. Die Bundestagswahl ist eine Farce. Ich werde an ihr nicht teilnehmen.

Es tut mir leid: Die Demokratie ist am Ende. Sie war in Deutschland schon immer ein schwaches Pflänzchen, weil die Freiheit, vor allem die Freiheit, sich seines Verstandes selbständig zu bedienen, hier nur wenigen etwas gilt. ʼ89 sind zuletzt ein paar Menschen für diese Freiheit auf die Straße gegangen – sie verschwanden alsbald. Und trotzdem: Gegen den Marxismus, diesen zweiten von Popper ausgemachten Feind der offenen Gesellschaft, konnte man noch Demokrat sein – vor allem weil es erfahrbare Beispiele gelebter Freiheit gab.

Unter dem Regime der Biopolitik kann ich aber kein Demokrat mehr sein. Die Gesellschaft will keine Demokraten mehr, die Leute lassen sich – wie in der Offenbarung des Johannes beschrieben – Zahlen auf die Hand tätowieren als Zugangscode für den Markt. Die Freiheit ist tot, die Notwendigkeit der Zahl hat gesiegt. Da bleibt mir nur noch, die Segel zu streichen und abzutauchen.

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