#gesichtzeigen – über Masken und Menschenwürde

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Das Bild Gottes als Heimsuchung

Vom Kreuz herab blickt mich jener an, sterbend, mit nur noch halb geöffneten Augen ­ und doch ganz Antlitz, von dem großen Renaissance-Meister Veith Stoß in Holz geschaffen, blickt mich jener Jesus von Nazareth an, schaut auf mich herab, in unendlicher Traurigkeit, nicht als Symbol, nicht als Ikone, sondern in einer anrührenden Unmittelbarkeit, die sagt: Ich bin jener Menschensohn. Das Antlitz des Gekreuzigten sucht mich heim. So nennt der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas die Erscheinung des Antlitzes: eine Heimsuchung. Die Erscheinung jedes Antlitzes, menschlichen Antlitzes – und was mir in der Betrachtung des Gekreuzigten vielleicht in besonderer Weise widerfährt, gilt für jeden Menschen: „Das Antlitz“, schreibt Lévinas, „ist Not. Die Nacktheit des Antlitzes ist Not, und in der Direktheit, die auf mich zielt, ist es schon inständiges Flehen. Aber dieses Flehen fordert. In ihm vereinigt sich die Demut mit der Erhabenheit. Und dadurch kündigt sich die ethische Dimension der Heimsuchung an.“

Das Antlitz stört die weltliche Ordnung

Im Gegensatz zu den Philosophen Kant und Hegel, die unsere Verpflichtung dem Anderen gegenüber aus der Diesseitigkeit unserer Vernunft herleiten, einer ins Diese hineingeholten Transzendenz, in der der Andere derselbe ist, sich durch die Selbstheit definiert, wie ich ist – im Gegensatz also zu dieser Wechselseitigkeit, die immer wieder zu sich selbst zurückkehrt, bleibt der Andere bei Lévinas absolut. Absolut anders. Und sucht mich heim: „Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir durch seine Nacktheit, durch seine Not, eine Anordnung zu verstehen gibt. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zu Antwort. Das Ich wird sich nicht nur der Notwendigkeit zu antworten bewusst, so als handele es sich um eine Schuldigkeit oder eine Verpflichtung, über die es zu entscheiden hätte. In seiner Stellung selbst ist es durch und durch Verantwortlichkeit.“ Das Antlitz „spricht“; sein Erscheinen ist „die erste Rede“. Man könnte auch sagen: Nicht das „Da“ war das erste Wort, nicht dieses Verweisen von Signifikant auf das Signifikat, sondern das „Du“ als das in die Gefahr hineingesprochene Verlangen nach Antwort. Für Lévinas leitet sich unsere Verantwortlichkeit eben nicht aus einer Überlegung des Bewusstseins ab, nicht aus der Rationalität eines „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Nicht aus einer Verrechnung von Leid, aus der die Utilitaristen ihre Moral begründen. Die Anwesenheit des Antlitzes begründet für Lévinas „eine nicht abzulehnende Anordnung, ein Gebot, das die Verfügungsgewalt des Bewusstseins einschränkt.“

Sein Antlitz begründet die Würde des Menschen

Diese zwei Aspekte des Antlitzes, nämlich einerseits Rede zu sein und von mir (Ver)Antwort(ung) zu verlangen, andererseits eine Anordnung zu treffen, die nicht auf eine Kategorie des Bewusstseins, auf den Begriff des Menschen, der Vernunft, des Lebens oder was auch immer zurückgeführt werden kann – dieses Wunder des Antlitzes ist, was wir die unantastbare Würde des Menschen nennen. In seiner Unantastbarkeit stört das Antlitz die rationale Ordnung der Welt, ihre Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, ihre Zweck-Mittel-Relationen. Für alle in diesem Sinne „Vernünftigen“ stellt es in der Tat eine Heimsuchung dar.

Verhüllung verstößt gegen Würde

Das Antlitz zu verhüllen, ihm den Mund, das heißt: die Rede zu verbieten, ist daher ein Verbrechen gegen die „nicht abzulehnende Anordnung“. Wenn sich die Menschenwürde aus dem Antlitz des Gekreuzigten, der mich anspricht und von mir Antwort verlangt, ergibt, aus der Nacktheit des Antlitzes, die Not ist und die mich nötigt, dann vergeht sich die Verhüllung des Antlitzes gegen diese Würde. Insofern ist die Menschenwürde auch spezifisch der jüdisch-christlichen Überlieferung entstammend. Und insofern halten wir die Verschleierungsgebote, wie sie in etlichen islamischen Regionen für Frauen gelten, als nicht mit der Menschenwürde vereinbar. Die Begründung, mit der das Gebot der Verschleierung, die vollständige Verhüllung des Antlitzes gerechtfertigt wird, reduziert die Frau zu einem Term in einer Ursache-Wirkungs-Funktion: Sie müsse sich in der Öffentlichkeit verhüllen, heißt es, um die Männer nicht zu erregen. Die Frau also als Erregerin einer öffentlichen Erregung. Und zwar nicht eine konkrete Frau in einer konkreten Situation, sondern bloß als Frau. Gleichermaßen reduziert die gegenwärtig über uns verhängte Maskenpflicht den Menschen auf einen Erreger, nicht einen Menschen in einer konkreten Situation (beispielsweise den Chirurgen bei der Operation), sondern bloß, weil er ein Mensch ist. Hinter der Maskierung, die das menschliche Antlitz verhüllt, tritt der Erreger hervor. Das Antlitz als „ein Gebot, das die Verfügungsgewalt des Bewusstseins einschränkt“, das Antlitz, das vom „Anderswo“ herrührt und daher die Menschenwürde unantastbar macht und sie den Verhältnissen von Zwecken und Mitteln entzieht, macht sie im eigentlichen Sinn des Wortes unberechenbar. Würde lässt sich nicht teilen, nicht multiplizieren, nicht verrechnen. Die Maskenpflicht hingegen ist eine Anordnung gegen das Gebot des Antlitzes, gegen das Gebot der Würde. Die Maskenpflicht, weil sie über den Menschen als Menschen verhängt ist, reduziert ihn zum Träger einer statistischen Wahrscheinlichkeit, reduziert ihn zu einem Term einer stochastischen Funktion. Und setzt ihn damit dem Virus gleich.

Menschenwürde lässt sich nicht verrechnen

Zu Recht hatte seinerzeit das Bundesverfassungsgericht einen Gesetzentwurf abgelehnt, der den Abschuss eines gekaperten Flugzeuges erlauben sollte, wenn sich ein Terroranschlag wie 2001 abzeichnen sollte: Menschenleben, so die Begründung lassen sich nicht gegeneinander verrechnen, Menschenwürde lässt sich nicht gegen bloßes Leben verrechnen.

Das Argument, eine Maske tragen zu müssen, sei im Vergleich zum Erleiden einer schweren Krankheit, gar dem Tod eine zu verkraftende Einschränkung, dieses Argument verkennt diese Unberechenbarkeit der Würde. Gerade dadurch die Maskenpflicht mich auf den Status eines Erregers reduziert, enthebt sie mich meiner Verantwortung. Das Argument ist ein biologisches, ein ökonomisches, ein statistisches – kein moralisches, es hat keine ethische Dimension. Die Maskenpflicht wäre vielleicht in der Tat übergangsweise zu verkraften, wenn sie eine einzelne Maßnahme wäre – und nicht die Fortsetzung einer beispiellosen Aufkündigung der Grundrechte, die sich gerade aus der Menschenwürde ableiten. Antwort schulde ich dem Antlitz des Anderen – nicht einer statistischen Wahrscheinlichkeit, auch nicht einer Todesstatistik.

Würde bis in den Tod

Zu den Rechten, die aus jenem „Anderswo“ jenem „jenseits des Seins“ herrühren, gehört im übrigen auch das Recht, die Sterbenden zu trösten und die Toten zu würdigen. Auch hier vergehen sich die gegenwärtigen Verordnungen an der Menschenwürde. So wie der antike König Kreon, der im Namen der Staatsraison Antigone untersagte, ihren Bruder angemessen zu bestatten. Als sie sich auf ein göttliches Recht berief, über dem weltlichen stehend, wurde sie von Kreon in Quarantäne geschickt, in einen Turm eingemauert, mit Nahrung für 30 Tage, um zur „Vernunft“ zu kommen. Sie wählte, so will es die Legende, den Freitod – und wahrte so ihre Würde.

Würde beweist, wer sein Gesicht zeigt

„Das Jenseits“, schreibt Emmanuel Lévinas, „von dem das Antlitz kommt, bedeutet als Spur.“ Das Antlitz ist dabei nicht das Abbild des Gottes, „der vorbeigegangen ist“, sondern nach dem Bilde Gottes sein heißt, „sich in seiner Spur befinden.“ Heißt: sein Antlitz zu zeigen, von Angesicht zu Angesicht.