Aus dem 1. Kapitel: „Vor dem Ende“
Es ist nicht absehbar, dass der Regen in den nächsten Tagen aufhören wird. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es einmal so lange ununterbrochen geregnet hätte. Es sind jetzt schon sechs oder sieben Tage. Die Feuerwehr rückt aus, um Wasser aus Kellern zu pumpen. Draußen ist es fast dunkel, man könnte meinen, es sei Winter, dabei haben wir Ende August. Man muss sich einen Pullover überziehen. Auf dem Campus wird gebaut. Die Ausleger der Kräne mit ihren schwebenden Lasten bewegen sich durch den Grauschleier wie Schlingpflanzen im Aquarium.
Ich sitze an meinem Schreibtisch in dem kleinen Zimmer neben dem Labor, die Neonröhren spiegeln sich in der Fensterscheibe. Ich schaue raus. Es ist kurz vor halb acht morgens. Nebenan laufen die Zentrifugen, ich könnte die Zeit nutzen, um den Sequencer vorzubereiten oder wenigstens etwas für meine nächste Publikation tun, die ich nun schon so lange vor mir herschiebe. Nichts dergleichen. Nichts. Es ist jetzt schon der dritte Tag, an dem ich einfach so dasitze, antriebslos, mein Tun auf das Nötigste beschränkend, Fragen vermeidend. Das Neonlicht empfinde ich als beruhigend. Ich erinnere mich an das Gefühl, das mich als Schüler überkam, wenn ich aus einem dunkelgrauen Morgen heraus die weiß erleuchteten Fenster des Schulgebäudes erblickte. Kaltes Licht gegen Seelenaufruhr. Ich habe die Kerzenmenschen nie verstanden, Kerzen machen mich nervös. Draußen die Nässe, drinnen das Neonlicht. Das ist gut. Es ist ruhig, fast still, nur das leise Surren der Zentrifugen, das hintergründige Rauschen des Regens, mein Atem, mein Herz. Nichts. Es ist noch früh, ich bin allein im Labor. Wenn man vor den anderen aufsteht, können sie einem diesen Teil des Tages nicht mehr nehmen. Andere suchen Zuflucht an Orten, ich suche Zuflucht in Stunden. Ein wenig schmerzt mein Magen vom Frühstückskaffee. Zu viel, zu stark. Mir fällt auf, dass ich in der vergangenen Nacht nicht geträumt habe. Der siebte Tag, dass es regnet, der dritte Tag, dass ich aus dem Fenster schaue. Es musste also am Abend des dritten Regentages passiert sein.
Ich denke – oder etwas in der Art. Das Denken kann sich nicht selbst denken. Etwas also denkt »ich«. Was ist »Schuld«? Was »ich«? Was wird aus dem Samenkorn, das neben die Ackerfurche fällt? Rächt sich eines Tags ein geleugneter Gott für gegen ihn begangene Unachtsamkeiten? Was ist das für ein verwunschener Garten, in dem im Winter Rosen und im Sommer Eisblumen blühen? Mein Leben ist kein langer ruhiger Fluss. Das kann ich sagen, obwohl ich vielleicht nicht einmal die Hälfte hinter mir habe. Ach Hanna, auf was ließen wir uns ein? Mich lässt die Frage nicht los, welchen Anteil ich daran hatte, dass die Dinge so gekommen sind, wie sie es eben sind. Dabei weiß man heutzutage nicht einmal mehr, ob uns überhaupt irgendetwas zurechenbar ist, ob wir Herr über unser Tun sind, oder ob nicht vielmehr bloß determinierte Prozesse ablaufen und unsere Idee vom freien Willen, von freien Entscheidungen nicht nur ein Trick der Evolution ist, um uns bei Laune zu halten. Die Zeitungen sind voll davon. Ich habe es indes nie bezweifelt, dass wir für unser Tun und Lassen verantwortlich sind. Die Frage ist nur, in welchem Ausmaß. Wird noch das kleinste Vergehen bestraft? Und was, wenn uns gar nicht bewusst ist, dass wir uns vergangen haben? Man tut nur, was alle tun, lässt beim Zähneputzen das Wasser laufen, schnippst einen Marienkäfer vom Ärmel, und das war’s dann. Was, wenn der Kreislauf von Werden und Vergehen einmal unterbrochen würde? Im Begriff des Vergehens, der sich nur dadurch vom Verbrechen unterscheidet, dass er auf leisen Sohlen daherkommt, steckt immer auch der Begriff der Schuld. Tagsüber, wenn man beschäftigt ist, merkt man es nicht so, der Mensch ist schon mit der Fähigkeit ausgestattet, unter sich selbst nicht allzu sehr zu leiden, was erstaunlich ist, doch nachts, wenn man im Bett liegt und nicht einschlafen kann, dann werden einem diese Zusammenhänge sehr wohl bewusst.
Der Sommer war über seinen Zenit, etwas Sonne klebte uns noch harzig-süß an den Händen und in einer späten Wärme schmeckte man schon die Kälte des nahenden Herbstes und Winters. Es musste eine Entscheidung getroffen werden. Allein der Gedanke daran weckte Übelkeit in mir. Es gab Dinge, die musste man entscheiden, ohne sie verantworten zu können. Ich wäre froh gewesen, wenn mich jemand gezwungen hätte, wenn ich hätte sicher sein können, dass in mir nur ein genetisches Programm abläuft, wenn ich nicht dieser verdammten Freiheit unterworfen wäre, die echte Veränderungen zuließ. Jemand sagte einmal, dass unsere Freiheit darin bestünde, das zu akzeptieren, was ohnehin nicht zu ändern ist. Doch das Leben ist nichts, was vor einem abläuft wie ein Film.
Aber ich gehe schon zu weit. Denn vor dem Ende der Geschichte liegt ihr Anfang; da man allerdings weder des einen noch des anderen sicher sein kann, bleibt nur, irgendwo in der Mitte zu beginnen und sich dann in beide Richtungen, Vergangenheit und Zukunft, vorzuarbeiten. Das Vergangene zu erkennen und zu begreifen, ist auch ein Fortschritt, nichts erhellt sich aus dem Nichts heraus, auch die Zukunft nicht. Physikalisch gesehen hat die Zeit keine Richtung; was wir eine Ursache nennen, auf die eine Wirkung folgt – das ist alles Interpretation. Was uns an Zeitreisen hindert, ist nicht die Zeit selbst, sondern unsere Körperhaftigkeit. In Gedanken steht uns alles offen, können wir alle vier Dimensionen durchmessen. Was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist, wird nicht durch die Geschichte bestimmt, sondern dadurch, dass wir »jetzt« sagen, dieses Wort wie einen Meilenstein in das ewige Werden und Vergehen, die Transformationsprozesse, einschlagen und damit ein Vorher und ein Nachher erzeugen.
Aus dem 6. Kapitel: „Die Eule“
Ich fühlte mich ertappt. Hatte sie am gestrigen Abend von mir etwa erwartet, weiter zu gehen? Vielleicht gehörte das auch zu den Dingen, die ich mir vormachte, dass es unanständig sei, gleich am ersten Abend mit jemandem ins Bett gehen zu wollen. Dabei hatte ich wohl nur vor mir selbst Angst. Angst davor, eine Entscheidung zu treffen, für Folgen verantwortlich zu sein. Ich hatte mir einmal zurechtgelegt, dass gute Entscheidungen solche sind, bei denen man nachher mehr Möglichkeiten hatte als vorher. Mit jemandem ins Bett zu gehen, hatte für mich immer noch etwas Unumkehrbares, wenn ich mich also dafür entschied, es nicht zu tun, blieb mir immer noch die Möglichkeit, es später doch zu tun; im umgekehrten Falle nicht. Das hatte etwas von Blaise Pascals Gottesbeweis: Wenn man nicht an Gott glaubt, und es stellt sich heraus, dass er doch existiert, dann sei man der Verdammnis sicher. Wenn man hingegen an Gott glaubt, und es stellt sich heraus, dass er nicht existiert, hätte man zumindest nichts verloren, im Falle dass er existiert aber alles gewonnen. Insofern sei es klüger, an Gott zu glauben. Das ist die Logik eines Menschen, der sich in völlige Abhängigkeit von fremden Mächten begibt. Entscheidungen nur danach zu fällen, ob man anschließend noch eine Fluchtmöglichkeit hatte, war ähnlich feige. Ich hatte zu Elena gesagt, dass mit Hanna nichts gehen würde, das war so eine Entscheidung, von der ich mich nun vielleicht würde verabschieden müssen. Das hieß nicht automatisch, dass das Gegenteil richtig gewesen wäre, sondern nur, dass man es vorher nicht wissen konnte.
Aus dem 8. Kapitel: „Was sind deine Pläne?“
Inzwischen hatte es wieder aufgehört zu regnen. Ich bestellte noch einen Kaffee und machte mich dann auf den Weg zum Auto. Es gab keinen Grund, noch länger in Orange zu bleiben. Weil ich Zeit hatte, wollte ich über Carpentras nach Apt fahren, gemütlich über die Landstraßen gondeln und am späteren Nachmittag zum Apéritif in Saignon sein. Der Kater vom Vorabend war inzwischen verflogen, ich fühlte mich zwar noch immer ein wenig matt, aber das würde sich legen. Ich ging langsam durch die Straßen, überlegte an einem Kiosk, ob ich eine Postkarte kaufen sollte, ließ es dann aber bleiben. Ein herrenloser Hund schnupperte an meinem Bein und ein Bauarbeiter schleppte einen Sack Zement in ein Haus, das renoviert wurde. Der Sack ruhte allein durch sein Gewicht auf seiner Schulter, die er mit der Hand in der Hüfte abstützte. Auf dem Asphalt der Straße trocknete langsam die Nässe weg. In meiner Jackentasche surrte mein Handys und kündigte damit den Eingang einer SMS an. Ich hatte keine Eile nachzuschauen. Es war wahrscheinlich nur eine dieser üblichen Nachrichten eines Netzbetreibers, die man im Ausland laufend bekam. Dachte ich. Als ich im Auto saß, sah ich dann doch nach. miss you. can i come? hanna. Ich blickte auf die Nachricht, bis das Display erlosch, aktivierte es wieder, blickte wieder hin, legte das Handy für ein paar Minuten auf den Beifahrersitz, starrte durch die Windschutzscheibe nach vorne, nahm das Handy erneut in die Hand und las die Nachricht ein drittes Mal. Für einen Moment hatte ich die Idee, sie einfach zu löschen. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. War die Eule in Dijon schlauer gewesen als ich? Ich las die Nachricht ein viertes, ein fünftes Mal. Sie blieb immer dieselbe: miss you. can i come? hanna. Vielleicht hatte sie sich nur vertippt, die falsche Nummer ausgewählt, so etwas kam vor, mein Gott, wir hatten zweieinhalb Tage miteinander verbracht, wir waren doch keine Teenager mehr. Was war vernünftig?
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