Trampelpfade des Denkens

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Die Erzählung, das Buch, das Netz. Wir romantisieren das, was wir nicht mehr haben, und beargwöhnen das Neue. Dazwischen halten wir fest. Das Buch ist paradigmatisch für eine Kultur des Festhaltens und des Absonderns. Das Buch strukturiert. Es ist nicht ausgemacht, ob der Übergang von einer Erzähl- zur Buchkultur einen Aufstieg oder Abstieg darstellt. Die Erzählung ist ein Fluss, das Buch ist eine topogra­phische Karte. Seit tausend Jahren, seit der Zeit, die uns noch kollektiv im Bewusstsein ist, zählt uns die Karte mehr als das Gebiet. Und das Netz? Wir leben in einer Zeit, die sich auf eine unpassende Metapher gründet. Was fängt ein Straßennetz in seinen Maschen? Damit fängt es schon an: Was sind Wege? Und dann eben das Inter­net: Der Begriff ist in der Welt. Aus Unachtsamkeit? Er behagt mir nicht. Wir sprechen von der Netzkultur. Das Netz wird ausgeworfen, hat sich aus- oder vielmehr ent-worfen, die Ent-wicklung durch den Ent-wurf ersetzt. Darwin ist tot. Um die Netzmetapher zu verstehen, braucht man ein Boot, ein Bord. Ich wähle das Buch. Ich übertrage den Ent-wurf des Netzes auf das Buch, auf die gebundenen Seiten. Der Kodex erzwingt eine Reihenfolge. Man hat das früh gemerkt und ist diesem Zwang mit dem Register begegnet. Das Buch ist eine Krücke, die selbst der Krücke bedarf? Warum hält man soviel darauf?

Die Anordnung der Texte in diesem Buch folgt keinem Entwicklungsgedanken, sie ist keine Ordnung, eben nur eine An-ordnung soweit wie es nötig ist, dass jeder Buchstabe seinen Platz hat. Man muss nicht den ersten Text gelesen haben, um den letzten zu verste­hen. Man muss sich seinen Weg bahnen. Man kann den Seitenzahlen folgen, sie sind ein gewohnter Trampelpfad. Oder man folgt den Nummerierungen, sie vernetzen thematisch (soweit sich die Zusammen­hänge meiner Gedanken objektivieren lassen). Oder man schlägt einfach eine Seite auf, liest einen Text und folgt den Verwei­sen und arbeitet sich so durch das ganze Buch. Je nachdem, aus welcher Richtung man kommt, ändert sich die Perspektive. Es geht so oder so, der Zwang des Kodex, der Zwang des Buches, es „richtig“ zu lesen, ist aufgehoben. Drei- oder mehr tausend Jahre Schriftkultur, tausend Jahre Kodex-Kultur haben unsere Biologie nicht verändert. Die Neuronen, Dendriten, Synapsen geben einen Scheiß auf unsere Strukturierungen. Mit dem Netz sind wir nun wieder dort, wo wir waren, als wir das Meer verließen.

„Dort, wo andere Werke vorlegen, beabsichtige ich nichts ande­res, als meinen Geist zu zeigen“. Der Satz Artauds könnte so etwas wie ein Motto sein. Dieses Buch ist ein Werk und ist es zugleich nicht, weil das, was es darstellt, zugleich das Werkzeug seiner Her­stellung ist. Man kann hier sehen, was den Hirnforschern mit ihren Scannern nicht vergönnt ist. Wo sie aus der Falle des Beobachters des Beobachters nicht herauskommen, weil sie viel zu Kantisch denken, zeigen sich meine Gedanken hier als rein das, was sie sind. Sie sind grundlos, halten sich gegenseitig (mehr oder weniger!), ohne dass ein einzelner Halt hätte. Manche Wege werden doppelt beschritten, breitgetreten, andere veröden. Was andere Autoren aus ihren Manu­skripten getilgt hätten, um einen Eindruck von Geradlinigkeit zu erzeugen, habe ich stehen lassen.

Es versteht sich von selbst, dass dieses Buch seinen Autor verleug­net. Wer wollte einem Ereignis denn auch eine Täterschaft zuordnen? Das gab es doch alles schon mal, wird man jetzt sagen. Ja und? Dies ist ein Buch ohne Bilder – eine Provokation, im wahren Sinne des Wortes also eine Fürsprache. Es ist nichts damit getan, sich unverständlich auszudrücken, vielmehr muss man doch das Unver­ständliche ausdrücken. Das geht nicht, indem man dem Bestehenden nur akzidenziell etwas hinzufügt. Sich an Regeln zu halten, ist ja selbst auch nur eine Regel. Man verliert sich. Wer sich in diesem Buch wiederfindet, hat das Netz überwunden.

Erschienen 2014 im LIT-Verlag, Berlin.