RAUMWUNDER: Die Kraft der Kunst

Ein Projekt von Martina Geiger-Gerlach mit einem Essay von Matthias Gronemeyer

Kurzinfo zum Projekt & Buchbestellung

Es heißt RAUMWUNDER. Aber was bedeutet das? Man spricht gemeinhin von einem Raumwunder, wenn ein Inneres sich größer anfühlt, als es das Äußere vermuten lässt. Ein Kleinwagen vielleicht, in dem vier Personen bequem mit Gepäck reisen können; ein winziges Haus vielleicht, in dem man sich auf zehn Quadratmetern nicht beengt vorkommt. Der Raum ist hier ein Phänomen, ein phänomenaler, also ein erscheinender, als etwas erscheinender Raum. Der mathematisch-physikalische Raum ist leer. Er kennt nichts außer seinen Dimensionen. Er hat nur eine Quantität, keine Qualität. Dreißig Kubikmeter. Ein Zimmer von derselben Größe scheint doch etwas anderes zu sein. Manchmal ist davon die Rede, dass es nicht nur eine Welt gibt, sondern mehrere. Parallel-Welten. Wie können wir uns vorstellen, dass derselbe Raum, dieselbe Quantität von Raum, in der einen Welt so und in der anderen ganz anders ist? In der einen leer und in der anderen besiedelt? Wenn hier von einem Raumwunder die Rede ist, dann meint dies aber einen anderen Raum, keinen erscheinenden (phänomenalen), sondern einen erlebbaren (ästhetischen).

Was ist ein Wunder? Die Herkunft des Wortes liegt im Dunklen. Ähnlich klingen vielleicht die Windung und der Wanderer. Etwas, das sich herauswindet? Ein umherziehender Zauberer? Wahrscheinlich. Wenn im Neuen Testament von Wundern die Rede ist, dann steht dort im altgriechischen Original dynamis, zu deutsch: die Kraft. Wunder ereignen sich, wenn eine besondere Kraft zugange ist. Das Raumwunder, von dem hier die Rede ist, gehört in diese Kategorie: Eine besondere Kraft hat einen Raum geöffnet, der zuvor unzugänglich war.

Die Kraft der Künstlerin ist die poiesis, also das Vermögen, etwas hervorzubringen. Die poetische Kraft – die sich hier nicht nur auf die Dichter beschränkt, sondern allen Künstlern zueigen ist. Ohne diese Kraft, ohne diese Anstrengung, gibt es keine Kunst. Die Umwelt, die sich der Künstlerin gegenüber als widerständig erweist, fördert das, was wir Entwicklung nennen: Energie wird in gedankenvolles Handeln umgewandelt und Altes in Neues. Kunst, die etwas zum Ausdruck bringt, ist immer mit diesem transformatorischen Akt verbunden. Sie ist dieser Akt selbst. Nur dort, wo Absicht und sichtbares Tun in eins fallen, erlangt die Kunst eine ästhetische Qualität. Es muss also etwas auf dem Spiel stehen.

Was Freiheit der Kunst bedeutet, ist vielfach falsch verstanden worden: als absichtsloses Tun, gar als egomanischer Selbstverwirklichungstrip. Dann aber wird Kunst zu einem elitären Luxusgegenstand, zu Kunst, die weggesperrt wird (sei es räumlich oder monetarisch), die dem Volk entzogen wird. Nein, Kunst beginnt dort, wo jemand eine Sache achtsam und liebevoll ausführt. Sie beginnt im Alltag.

Die Wahl der Mittel ist dabei nicht beliebig. Man kann nicht einfach ein Bild malen oder eine Skulptur schnitzen. Die Frage, die die Künstlerin beantworten muss, ist nicht die nach Aquarell oder Öl. Sie ist vielmehr der Widerstand, der sich ihr entgegenstellt. Künstlerisches Handeln bedeutet, den Stoff, der ein Problem aufgibt, in ein Mittel zur Lösung eben dieses Problems umzuwandeln. Bei RAUMWUNDER wurde genau dies getan: Ein widerständiger Stoff (unzugänglicher Wohnraum) wurde in der künstlerischen Transformation zugänglich. Man weiß vorher nicht, ob es funktionieren wird. Insofern ist künstlerisches Handeln auch immer gefährliches Handeln, zumindest gefährdetes.

Wenn künstlerisches Handeln transformatives Handeln ist, dann ist der poetische Raum ein transitorischer Raum, ein Transit-Raum. Poetische Räume sind nun aber selten bewohnbare Räume, zumindest nie dauerhaft bewohnbare Räume. Oftmals sind sie einfach zu klein: die Schublade, das Schneckengehäuse, die Herzkammer. Sie sind keine Zweckbauten. Der poetische Raum ist ein flüchtiger Raum. Ebenso wie seine Inhabitanten. Wir, die wir die poetischen Räume bewohnen, tun dies immer nur übergangsweise. Wir sind Übergänger.

Das Gegenteil der Kunst ist die Moral. Die Negation des poetischen Raumes ist die Raumordnung. Die Moral, das moralische Gesetz beanspruchen universelle Gültigkeit, über alle Räume hinweg, über alle Zeiten hinweg. Die Moral ist im besten Sinne des Wortes langweilig. Sie ist eine Gewohnheit, ein Eingewöhntsein, am Ende das Wohnen selbst. Der Besitz und das Eigentum und das Recht, das immer ein Eigentumsrecht war und ist. Wohnung als Schonung ist ebenso unantastbar wie die Moral. Beide schonen den Menschen. Mit seinen Unterteilungen von richtig und falsch, von gut und böse, von Recht und Unrecht scheidet der moralische Raum das Innen vom Außen. Er gibt sich nach innen hin universell und nach außen hin hermetisch. Dort, wo der moralische Raum seine Türen öffnet, tut er dies nur, um sie hinter dem Eintretenden sofort wieder zu verschließen. Er beansprucht für sich die Beherbung des ganzen Menschen – und nimmt doch nur den gewöhnlichen.

Wie aber kann nun der poetische Raum, dieser Raum des Übergangs, zu einer dauerhaften Bleibe werden, dauerhaft bewohnbar, wenn die moralischen Räume sich als unzugänglich erweisen? Er kann dies unter der Maßgabe, dass wir Übergänger sind, allesamt flüchtige Gestalten. Dass Ek-sistenz Nicht-Sesshaftigkeit bedeutet. Wenn das Übergängertum, der Transit, die Migration die paradigmatischen Seinsformen des 21. Jahrhunderts sind (und alles deutet darauf hin), dann sind diese poetischen Räume die letzten möglichen. Sie sind spaces to go. Schonungen auf Zeit.

RAUMWUNDER überwindet die innere Widersprüchlichkeit der Raumordnung mit ihren Inklusionen und Exklusionen, weil die ästhetische, die poetische Wahrheit, im Gegensatz zur Logik der Moral, keine Widersprüche kennt. Die moralische Wahrheit ist allenfalls eine halbe, weil sie ständig darauf beharrt zu sagen, was etwas nicht ist. Die poetische Wahrheit aber kann allein die Ganze sein, weil sie in der Lage ist zu sagen, was etwas auch ist. Es ist am Ende also gar kein Wunder, sondern es ist dynamis, Kraft, in Verbindung mit poiesis, Kunst, die hier einen Raum öffnet und bewohnbar macht.

Matthias Gronemeyer

PROJEKTINFO RAUMWUNDER

Am Anfang: Überall in Stuttgart stehen Wohnhäuser leer, durchaus mit behördlicher Genehmigung, weil sie abgerissen und durch neue ersetzt werden sollen. Oft vergehen aber Jahre zwischen dem Auszug der letzten Mieter und dem endgültigen Abriss. Gleichzeitig hat die Immigrationswelle von 2015 die Stadt vor die Aufgabe gestellt, Tausende von Menschen unterzubringen, was in der Regel in sogenannten Systembauten, standardisierten, knapp bemessenen Wohnungen geschieht, die dort errichtet werden, wo gerade Platz ist: in Gewerbegebieten oder in der Peripherie.

Die Initiative: Im Wohngebiet Steckfeld in Plieningen stehen ebenfalls Wohnhäuser leer. Der örtliche Freundeskreis Flüchtlinge fragt den Eigentümer um befristeten Wohnraum für Geflüchtete an.

Das Dilemma: Die mit einer privaten Wohnraumvermietung an Geflüchtete einhergehenden mietrechtlichen Verpflichtungen sind für den Eigentümer wirtschaftlich nicht darstellbar, er erteilt der Initiative daher eine Absage.

Die Lösung: Die Konzeptkünstlerin Martina Geiger-Gerlach fragt an, ob die Wohnungen für ein temporäres Kunstprojekt mit Geflüchteten genutzt werden können. Sie erklärt das Wohnen kurzerhand zur Kunst, zur „sozialen Plastik“ (Joseph Beuys). Das ist möglich. Zwei Wohnungen werden kostenlos zur Verfügung gestellt.

Die Arbeit: Die Künstlerin wählt Wandfarben aus, Mitglieder der Initiative und Bewohner der benachbarten Flüchtlingsunterkünfte renovieren mit ihr die erste Wohnung und richten sie mit geschenkten Möbeln ein. Die wechselnden Einzelausstellungen der eingeladenen KünstlerInnen machen die Vier-Zimmer-Küche-Bad zum Gesamtkunstwerk. Als „Rückzugswohnung mit Kunst“ steht es von nun an den Bewohnern der Gemeinschaftsunterkünfte kostenfrei zum temporären Wohnen zur Verfügung.

Das Projekt lief vom 01.06.2016 bis 30.06.2018. Der 72-seitige Fotokatalog zum Projekt ist für 30,00 € zu bestellen bei martina@geiger-gerlach.de.