Aus vögeln – eine Philosophie vom Sex
Aus dem 20. Kapitel
Es wird die Prostitution solange geben, wie Überschüsse produziert werden, entweder Überschüsse an Waren oder Überschüsse an Kapitalien und damit Erschöpfte und Verausgabte.
Für die Geschichte der Prostitution gilt dasselbe wie für die Diskurse über den Sex insgesamt: wo sie ein Gesagtes (oder auch ein in Bildern Gezeigtes) ist, ist sie umso weniger ein Getanes. Die vermeintlich historischen Berichte, die immer wieder zu einer ebenso vermeintlichen Aufklärung herangezogen wurden (und werden), sind Anekdoten, die sowohl im Kontext ihrer Entstehung als auch im Kontext ihres Zitats zu lesen sind. Auch die Diskurse über die Prostitution produzieren ihre eigenen Geschichten über ein goldenes Zeitalter, das sie entweder in unzugängliche Vergangenheiten oder das in Treiben fremder Völker verlagern.
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Die Verherrlichung der Prostitution beziehungsweise der Hure ist das reinste Phantasma. Es täuscht uns darüber hinweg, dass das schnelle abspritzen im Puff eher eine Erschöpfungserscheinung ist, eine Erschöpfung, die sich aus der Funktionalisierung und Totalisierung der Arbeit ergibt und die für die Zeugung keine Kraft mehr hat, als das Resultat eines „Triebüberschusses“. Je mehr der Industriekapitalismus an Waren produziert, um so mehr produziert er auch den Sex. Als die heimischen Ressourcen an „gefallenen Mädchen“ nicht mehr reichten, exportierte er seine erschöpften Arbeiter und Makler in die armen Länder Asiens, so wie er von dort billigen Plastikkram importierte. Inzwischen zirkulieren nicht mehr nur die Kunden sondern auch die Mädchen und Frauen. So, wie die Kapitalien auf der Jagd nach den besten Anlagemöglichkeiten über den Globus bewegt werden, bewegen sich auch die Körper zu den Orten von Angebot und Nachfrage. In der Prostitution bilden sich die ökonomischen Prozesse und Verfallsstadien ab. Je umfangreicher die Zeugungssimulationen des Industrie- und Finanzkapitalismus, um so zahlreicher die Zeugungssimulationen in den Bordellen. Hier finden sich die Erschöpften zusammen zur letzten Verausgabung. Die therapeutische Konnotation ist kaum zu übersehen und über dem matt daliegenden Kunden wandelt sich die Hure von der Sexgöttin zur Sexarbeiterin. Der Begriff der Sexarbeiterin ist nahe an dem der Sozialarbeiterin und beider Klientel ähnelt sich in seinen Erschöpfungszuständen (wenn es nicht ohnehin identisch ist). Es bedarf professioneller Praktiken, um bei ihm noch einen Ständer zu erzeugen als wackelige Grundlage einer kümmerlichen Ejakulation für den Müll. Beide, Sexarbeiterin wie Sozialarbeiterin, benötigen eine professionelle – und das heißt insbesondere: emotionale – Distanz zu ihrer Tätigkeit, um ihre persönliche Integrität zu wahren. Beide befassen sich nicht selten mit dem „Dreck“ und müssen daher Ekelgefühle überwinden. […]
Die Prostitution als Phänomen einer erschöpften Gesellschaft ist vielleicht die letzte Möglichkeit, sie als Ganzes zu deuten. Vielleicht können wir diese These sogar ausdehnen und sagen, dass die Prostitution schon immer ein Indiz für den Erschöpfungszustand einer Gesellschaft war; wenn nicht für den müden Arbeiter, dann für eine dekadente Oberschicht. Die Erzählung von den besonderen Lüsten, die innerhalb der Erzählung der Prostitution transportiert wird, gleicht doch eher den üblichen Verweisen auf die Frivolität der jeweils anderen, die wir durch alle Jahrhunderte finden: das Paris der 1920er Jahre, das Treiben des ancien régime, die Badehäuser des Mittelalters – und das antike Rom ist sowieso ein einziger Puff gewesen. Es sind immer die anderen, denen die Ausschweifung unterstellt wird. Da sie nur narrativ sind, werden die Lüste nicht ausgelebt, sondern phantasmiert. Sie sind ebenso ein Schein wie die Lüste, die Karrieren und Konsume versprechen. Die Prostitution konnte aber nur dadurch zur Massenproduktion aufschließen, indem sie zuverlässig nicht zeugte, also nach dem Prinzip der Selbstähnlichkeit sich die Infertilität des Industriekapitalismus aneignete. Zur Massenproduktion von Kühlschränken, Autos und Fernsehern gehörte daher notwendigerweise auch die massenhafte Produktion von Verhütungsmitteln (schon aus diesem Grund sind die Legenden von den Hurentempeln früherer Zeiten ins Reich der Fabel zu verweisen) und damit auch die Übertragung industrieller Sicherheitsvorkehrungen in die Bordelle. Die Verhütung soll dabei möglichst aber geleugnet werden, um der notwendigen Lüge noch einen Hauch von Wahrheit zu verleihen. Das Verlangen, „es“ mit der Hure ohne Gummi zu machen, treibt die Zeugungssimulation auf die Spitze. Die Konsequenz aus der Infertilisierung des Sex ist im Gegenzug die Entsexualisierung der Fortpflanzung. Wenn Papa zum vögeln zu Chantal geht, dann kann man das, was er mit Mama macht (wenn da überhaupt noch etwas geht), nicht mehr Sex nennen. Die Frau wiederum, die durch ihre Karrieren inzwischen ebenso erschöpft ist wie der Mann, greift zur SM-Lektüre. Seltener hält sie sich einen Stecher. Die „Karrierefrau“, die ihr Geschlecht unter dem Rationalitätsdiktat zum zweiten Mal vernichtet hat, kann die Zeugungssimulation selbst wiederum nur simulieren, indem sie mit Mädchen handelt, die sie von anderen Männern an ihrer statt penetrieren lässt. Beide, erschöpfter Mann und erschöpfte Frau treffen sich dann in der Reproduktionsklinik.
Es wird die Prostitution solange geben, wie Überschüsse produziert werden, entweder Überschüsse an Waren oder Überschüsse an Kapitalien und damit Erschöpfte und Verausgabte. Es wird sie solange geben, wie andernorts für die Jungfrauen keine Arbeit vorhanden ist (Kapitalismus ohne Industrie) oder die Arbeiten nichts einbringen (Industrie ohne Kapitalismus). Billige Huren und billige Pflegekräfte kommen aus denselben Ursprungsländern.
Und selbst dann, wenn die Quellen einmal versiegen sollten, ist damit ein Ende noch nicht ausgemacht. Es ist den Reinlichkeitsbewegungen nie gelungen, die Prostitution aus der Welt zu schaffen. Wir wissen jetzt warum: weil beide, die Philosophie wie die Prostitution, derselben Gründungslogik der Nicht-Zeugung entspringen. In der Hure – und vielmehr noch in dem Bewusstsein, dass man sie bezahlen wird – tritt der philosophischen beziehungsweise theologischen Moral dasjenige gegenüber, was sie an sich selbst hartnäckig verleugnet: ihre Infertilität. Erst eine Auflösung der Moral könnte also den Boden für das Ende der Prostitution bereiten. Wo wir nun aber das Zeitalter der Simulation verlassen und in die Hypersimulation eintreten, wird die Prostitution in der Umkehrung als Ort des „falschen“ Sexes zum Ort des „sichersten“ Sexes werden.