Kritik: Julian Nida-Rümelin scheitert mit seinem neuen Buch

Isabelle Hannemann, Serie metoo (Ausschnitt)

Das Titelbild zeigt einen dornigen Zweig, der im Bogen aus dem Wasser ragt und zusammen mit seiner Spiegelung ein weit aufgerissenes Raubfischmaul bildet. Unaufgeregter Realismus heißt das neue Buch des Münchner Philosophieprofessors und ehemaligen Kulturstaatsministers Julian Nida-Rümelin. Und im Untertitel: Eine Streitschrift. Da fragt man sich schon: Was jetzt – Ruhe oder Randale? Die Lektüre offenbart dann: Nida-Rümelin springt als Tiger und landet als Bettvorleger. Sein Versuch, den völlig überhitzten, zum Teil abgedrehten Debatten der letzten Jahre etwas „Vernünftiges“ entgegen zu setzen, endet in Banalität und ohrensesselhafter Verschnarchtheit.

Ehrenwertes Anliegen: Freiheit

Dabei ist sein Anliegen durchaus ehrenwert: Er will mit seinem nicht nur philosophischen, sondern auch lebensweltlichen Realismus die Vernunft und die Freiheit gegen Fake News, sogenannte alternative Fakten und insgesamt den großen Unsinn verteidigen. Und dass hier dringender Handlungsbedarf besteht, steht außer Frage. Allerdings: Ihm bei diesem Versuch zuzuschauen, tut streckenweise richtig weh.

Zu Beginn ein Missverständnis

Der Streit, den er hier bestreiten will, beruht nämlich auf einem Missverständnis; man könnte es den Kleist’schen Irrtum nennen: Heinrich von Kleist schreibt 1801 an seine Freundin Wilhelmine von Zenge, nachdem er Kants Kritik der reinen Vernunft (oder wohl eher eine Zusammenfassung) gelesen hatte, ganz überschwänglich, dass wenn alle Menschen grüne Gläser vor den Augen hätten, sie die Welt für insgesamt grün halten müssten, ohne je entscheiden zu können, ob sie es wirklich ist. Kleist macht aus Kant einen Konstruktivisten (ein typischer Anfängerfehler). Der radikale Konstruktivismus (wie er von Heinz v. Förster oder Ernst v. Glasersfeld vertreten wurde) verneint die Möglichkeit objektiver Wahrheit und hält jede Erkenntnis für subjektive Konstruktion. Diese Position hat Kant aber nie vertreten; Kant ist kein Konstruktivist (wenn sich jemand gegen den Subjektivismus ins Zeug geworfen hat, dann er!). Was einige ahnungslose amerikanische Autorinnen indes nicht davon abgehalten hat, ihn dennoch zu verkleisten (JNR nennt hier Christine Korsgaard).

Keine Auseinandersetzung mit europäischer Philosophie

Wer sonst seine Gegner sind, bleibt diffus. Insgesamt meint er etwas, was er Postmoderne nennt und das seiner Meinung nach in den „Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften“ offenbar Unheil angerichtet hat. Wahlweise heißen die Gegner Poststrukturalisten oder Dekonstruktivisten (ohne sie je beim Namen zu nennen, geschweige denn, ihre Positionen zu zitieren). Richtig ist, dass die Debatten, die in Frankreich in den 60er und 70er Jahren geführt wurden und die man (wenn auch sehr fahrlässig) unter dem Begriff Poststrukturalismus zusammenfassen kann, in den USA ähnlich naiv aufgenommen und weiterentwickelt wurden, wie der junge Kleist das mit Kants Erkenntnistheorie gemacht hat. Heraus kommt dabei dann ein kruder Kulturrelativismus, der Ehrenmorde und andere Gewalt billigt, wenn sie nur in der jeweiligen Kultur traditionell verankert sind. Und weil man hierzulande traditionell alles toll findet, was aus den USA kommt, wird solcher Unsinn dann gerne auch mal an deutschen Hochschulen gelehrt. Nur, und das muss man JNR vorwerfen: Wenn man einen ideologischen Gegner treffen will, dann muss man seine Lehrer angreifen und nicht seine ungeschickten Schüler (so begnügt sich der Autor damit, einen Feuilletonbeitrag der FAZ zu zitieren). Man wird zudem den Verdacht nicht los, dass JNR zu seinen Gegnerinnen auch die Geschlechterforschung zählt, die er zwar nicht explizit benennt, die aber die ganze Zeit wie ein großer Elefant im Raum steht.

Statt Analyse: Ein hoher moralischer Ton

Klugheit besteht nicht darin zu sagen, was etwas nicht ist, sondern Klugheit bedeutet vielmehr sagen zu können, was etwas auch ist. Wenn sich JNR der Mühe unterzogen hätte, nicht nur anglo-amerikanische Positionen anzugreifen, sondern sich tatsächlich mit der kontinentaleuropäischen, insbesondere französischen Philosophie, auseinanderzusetzen, dann hätte ihm vielleicht etwas Kluges gelingen können. Denn der Dekonstruktivismus Jacques Derridas (zum Beispiel) war ja gerade eine Antwort auf die in zwei brutalen Weltkriegen und den Gaskammern von Auschwitz gescheiterte deutsche Aufklärung. Der postmoderne Strukturalismus oder auch Poststrukturalismus ist der Versuch, in einer auseinandergefallenen Welt den Dialog noch aufrecht zu erhalten. JNR postuliert dagegen seinen „Ethos der epistemischen Rationalität“ und einen Kohärentismus, der die nicht zu leugnenden Partikularismen unserer Zeit einfach wegbehauptet. Er behauptet, dass diese „Einheit der Vernunft“ zwingend zur menschlichen „Lebensform“ (ein Begriff von Wittgenstein) gehöre und sich derjenige, der sie leugne, aus eben dieser Lebensform verabschiede (wie sämtliche Konstruktivisten, Utilitaristen und sonstigen „Epikuräer“). Oder zumindest unreif sei. Das ärgert nämlich auch: Dieser extrem hohe moralische Ton, den der Autor anschlägt: Eine Theorie für unausgereift zu halten, ist eine Sache – ihren Vertretern persönliche Unreife (und das auch noch mit Freud) zu attestieren, ist schlicht unverschämt und zeigt, dass Nida-Rümelin hier den Reflex vor die Reflexion gesetzt hat.

Die Moralkeule ausgepackt

Hanebüchen ist sein Beweis für die Existenz normativer Tatsachen: Dass der Holocaust ein großes Unrecht gewesen sei, könne doch wohl von niemandem bestritten werden, schreibt er. Dieses Unrecht sei demnach eine normative Tatsache. Unredlicher kann man kaum argumentieren: Er macht ein durchaus kontroverses philosophisches Erkenntnisproblem (gibt es normative Tatsachen?) zu einer Frage persönlicher charakterlicher Haltung. Da fallen die vielen kleineren Fehler schon kaum noch auf: Dass er z.B. mit naturalistischen Argumenten gegen Homöopathie agitiert, weiter hinten den Naturalismus aber entschieden ablehnt, oder das ptolemäische, geozentrische Weltbild einer dumpfen Christenheit zuordnet (und nicht als das begreift, was es war: Stand der Wissenschaft, mathematisch und empirisch wohl begründet).

Kein Problembewusstsein

Dazu kommt, dass JNR zwischen den Nebelkerzen, die er wirft, auch noch versucht, seinen epistemischen Realismus gegenüber anderen realistischen Theorien als überlegen darzustellen. Das macht die Sache dann vollends unübersichtlich. Denn der philosophische Realismus hat in der Tat ein Problem: Er mündet in Kontingenz. Oder anders ausgedrückt: Eine Welt allein aus Tatsachen macht keinen Sinn. (S. hierzu den sehr gut strukturierten und die Debatte reflektierenden Aufsatz von Inga Römer in Information Philosophie 3/2018).

Stoizismus fürs Establishment

JNRs Ideal ist denn auch der Stoizismus. Kluge Menschen, aller materiellen Nöte enthoben, sitzen friedlich beieinander und diskutieren wohlbegründend ihre unterschiedlichen Positionen. Der Stoiker zeigt seine persönliche Reife und Größe dann, wenn er bereit ist, in solch einer Debatte eine Überzeugung aufzugeben. Aber Stoizismus muss man sich leisten können. JNR kann sich offenbar nicht vorstellen, dass das Leben vieler Menschen anders aussieht als seines. Insbesondere, dass die Zugänge zu der von ihm favorisierten Debattenkultur beschränkt sind. Ich könnte ihm z.B. gar nicht in gleichem Maße auf seine Thesen antworten, weil der Mentis-Verlag meinen Text entweder gar nicht oder nur gegen mehrere tausend Euro Druckkostenzuschuss veröffentlichen würde. Von einem Autorenhonorar ganz zu schweigen.

Warum man dagegen an muss

Man hätte dieses Buch unkommentiert links liegen lassen können, wenn es nicht von einem Prominenten geschrieben worden wäre, der nicht nur großen akademischen, sondern auch politischen Einfluss besitzt. Man muss befürchten, dass JNRs väterliches „Jetzt seid doch mal vernünftig!“ einem Konservatismus Vorschub leistet, der viele unbequeme, aber um so notwendigere Debatten als Kinderkram abtut.