Im leichten Sitz – Leseprobe

Erster Teil: Der Flügel

1. Kapitel (Auszug)

Der Flügel schwebte. Schwang noch ein wenig hin und her, schwebte, wie ein großes, lebloses Tier nur schweben kann, war dunkel und still und ein Innehalten. Ächzte ein wenig. Für einen Moment hörten die Arbeiten auf, Leute blieben stehen, man stupste sich am Arm, man schaute hinauf. Das Bild würde ihm bleiben, auch wenn er sich später nicht mehr so genau daran erinnerte. Über eine Rampe aus Brettern hatten die Männer das schwere Instrument aus dem Fenster im ersten Stock geschoben, „Vorsicht!“ gerufen und „Zieh an!“, nun hing der Flügel an dem Kran, den man eigens dafür herangeschafft hatte, kein richtiger Kran eigentlich, sondern ein Förderband, mit dem Stroh und Säcke voll irgendwas auf den Scheunenboden befördert wurden, auf dem Gut konnte man sich so ein Gerät leisten. Man hatte oben einen Flaschenzug montiert, und daran hing nun der Flügel und verdeckte dem dreijährigen Albin Kortmeyer ein Stück des Himmels, der an diesem Tag im März vierundvierzig bedeckt über der Stadt Lage im Lippischen lag. Seit im Februar Bomben gefallen waren, bei der Zuckerfabrik und dem Güterbahnhof (und den Focke-Wulf-Außenwerken, aber sag das nicht), und zweiundsechzig Tote gefordert hatten, war der Himmel auch hier mit Argwohn zu betrachten. Man hatte es sonst immer nur im Westen leuchten sehen, wenn auf Bielefeld die Bomben fielen. Jeden Abend die Kinder in den Schlaf gesungen: Die Sternlein sind die Lämmerlein, der Mond, der ist das Schäferlein. Und dann doch aufgewacht.

An diesem Tag war es ruhig. Vatis Flügel. Das ist Vatis Flügel, hatte die Mutter immer gesagt zu dem holzbraunen reglosen Etwas, das da auf grünem Teppich im Zimmer stand, das man das Herrenzimmer nannte. Stolz und Bewunderung lagen in der Stimme der Mutter, wenn sie das sagte: Vatis Flügel. Wer mochte das sein, der dieses große Tier zum Leben erwecken konnte? Der Junge kannte seinen Vater nicht. Dass er einmal auf seinem Schoß gesessen hatte, war zu einer Zeit, als er noch zu klein gewesen war, um sich je daran erinnern zu können. Es gab ein winziges Foto davon: Ein Mann in einer Marineuniform. Maikäfer flieg. Es musste ein großer Mann sein, der den Flügel beherrschte, ein mächtiger Mann, der noch aus der Ferne das Tier zu reglosem Schweigen zwang, das nun gefesselt zwischen Erde und Himmel hing und sich nicht wehrte. Dem Flügel waren die Beine abgenommen worden zwecks des Transports. Er hätte mit seinen Beinen auch gar nicht gehen können, dachte der Junge, weil sie keine Knie hatten. Die größeren Kinder gingen manchmal auf Stelzen, aber dafür brauchte man Arme. Der Flügel hätte auch durch gar keine Tür gepasst, so breit wie er war. Er war dafür gemacht zu stehen und sich nicht zu bewegen. Oben in der Wohnung waren die Mutter und die Schwester noch mit Packen beschäftigt, die meisten Möbel hatte man bereits heruntergetragen. Albin stand auf der Straße, den Kopf im Nacken, die Hände in den Taschen der kurzen Lederhose, die Fingernägel drückten in die Handballen, der Mund halb geöffnet. Dass das Ding da fliegen konnte? Auf der Straße roch es nach Pferd und nach Wohnung, das Innere wurde nach außen gekehrt. Frauen liefen herum und manchmal kam jemand mit dem Fahrrad vorbei, das auf dem Kopfsteinpflaster klapperte. Noch kein Auto heute. Die Pferde standen ruhig vor den Wagen, warfen nur manchmal den Kopf, scharrten nur manchmal mit einem Vorderhuf, sie wären bereit zur Abfahrt, winkelten ein Hinterbein an, mussten noch warten. Heute schon geäpfelt? Auf den Wagen das Wohnzimmer mit dem großen Büffet aus Nussholz, sehr modern und sehr schwer, das Schlafzimmer, weißer Schleiflack, der Kleiderschrank mit vier Türen, Polstermöbel, Vitrinen, die Glastüren extra, alles in Decken und Planen verpackt. Ob es heute noch regnen würde? Besser nicht. Es war noch kalt. Hände in die Taschen.

„Minsch Junge, komm da wech! Wenn das Ding dauseilt, bis du doot!“ Albin brauchte einen Moment um zu kapieren, dass das Gebrüll des Mannes ihm galt. Die heikle Aufgabe, den Flügel aus dem Fenster zu kranen, hatte die Aufmerksamkeit der Männer gebündelt; jetzt, da das Schwierigste geschafft war und der Kran die Last hielt, war ihr Blick wieder frei für Umliegendes. Der Junge tat ein paar Schritte von der Hauswand weg.

Mit einem kleinen Koffer in der Hand kam Margarete Kortmeyer aus dem Haus. Eine zarte Person von dreiunddreißig Jahren im schwarzen Mantel mit Silberfuchskragen. Links den Koffer, rechts einen Gehstock. Kurz nach der Geburt ihres Sohnes war ihr das linke Bein amputiert worden. Eine Thrombose hatte sich gebildet, von der Hebamme nicht bemerkt, die der Mutter stilles Liegen verordnet hatte, sie war ja auch eine so zarte Person. Als später der Arzt nach ihr sah, konnte nur noch der radikale Schnitt eine tödliche Embolie verhindern. Und so, als wollte sie unbewusst ein aufkeimendes Schuldgefühl im Kind ertränken, schossen ihre Brüste über vor Milch. Der Junge vertrug die Muttermilch aber nicht, hieß es, man musste sie einem anderen Kind geben. Und den Jungen hatte man in Pflege geben müssen, das erst halbe Jahr. Was sich so Pflege nannte.

Die Amputation, die vom linken Bein nur den halben Oberschenkel übriggelassen hatte, hatte letztlich dazu geführt, dass der Flügel jetzt am Kran vorm Haus Nummer 50 in der Langen Straße hing. Die Mutter war mit den beiden Kindern, ihrer sechsjährigen Tochter Romy und eben Albin, allein nicht mehr zurechtgekommen. Beine fehlten, Väter fehlten. Man würde die Vierzimmerwohnung, die der gefragte Pianist und Saxophonist Heinrich Kortmeyer fünfunddreißig für sich und seine junge Frau angemietet hatte, verlassen und zurück ins Elternhaus ziehen. Es half ja nichts. Noch vor dem Krieg war der Vater zum Marinemusikkorps nach Wilhelmshaven gegangen – und jetzt irgendwo im Osten, wo so viele fielen. Hatte man das nicht wissen können? Vor der Hochzeit hatte er ein Engagement in der Schweiz gehabt, Bad Ragaz, wäre das nicht besser gewesen?

Nun war es nicht mehr zu ändern. Den Flügel würde man bei Braun in Detmold in Zahlung geben, gegen ein günstigeres Klavier und etwas Bares. Die Mutter hatte den Vater per Feldpost informiert, nur gingen die Briefe nicht mehr so leicht nach Osten und kamen noch viel weniger zurück. Man konnte nicht warten. Nun also alles auf Pferdewagen, wer hätte das gedacht. Man hatte ja Fuhrunternehmer Göke beauftragen wollen, aber der hatte seine Laster dem Krieg zur Verfügung stellen müssen, und so hatte Margaretes Vater Fritz Krone, Bäckereibesitzer und Gastwirt zu Paulskirchen, zwei Gespanne beim Gut Sierdissen ausgeliehen. Die Männer ließen den Flügel vom Himmel herab auf den Bürgersteig, der Lieferwagen des Klavierhauses Braun war eingetroffen, das eingetauschte Klavier würde in zwei Wochen ins Hause Krone geliefert werden. Der gute Herr Braun; wer kauft in diesen Zeiten schon Klaviere? Romy, kuckst du noch mal, ob wir alles haben? Nichts vergessen? Die Großeltern kamen noch zum Winken (Ludwig Kortmeyer, Tabak- und Zigarrenhandlung, im weißen Kittel, und Oma Louise im knöchellangen Rock): Ihr kommt uns doch mal wieder besuchen? Und eine Tüte Beulchen, wie sie zu den Bonbons sagten, für die Kinder.

Damit war die Sache abgeschlossen.

Albin setzte sich zum Gespannführer Heinemann, den das Gut entsandt hatte, auf den Bock des ersten Wagens. „Lassen Se den man“, hatte der zur Mutter gesagt. Vielleicht ist es auch besser so, dachte sie, dann ist er abgelenkt, es ist für Kinder ja nicht gut, wenn sie aus dem Gewohnten so herausgerissen werden. Romy, wie ernsthaft die war. Man hatte das Angebot von Herrn Weege angenommen, sie mit dem Auto zu fahren, man gehörte ja nicht zu den einfachen Leuten, es reichte, wenn die guten Möbel auf Pferdewagen wie im Herbst die Zuckerrüben durch die Landschaft gefahren wurden. Herr Weege besaß einen Autohandel und wusste den Vergaser seines Fords so einzustellen, dass er das knappe Benzin mit Ethanol aus der Lageschen Zuckerfabrik strecken konnte (Die Bomben hatten nur mäßig Schaden angerichtet). Er hatte dort seine Kontingente: Irgendwie muss es ja doch weitergehen? Vor dem Krieg hatte man bei Krones auch überlegt, einen Wagen zu kaufen, aber dann war Theo, der ihn hätte fahren können, gleich eingezogen worden. Na, so wichtig war es jetzt auch nicht. Romy fuhr im Auto mit. Sie wusste, dass man gerade ein Zuhause verloren hatte und hielt die Mutter die ganze Fahrt über an der Hand. Auch der Möbeltransport setzte sich in Bewegung, man würde für die zehn Kilometer bis Paulskirchen knapp drei Stunden brauchen und musste vor Einbruch der Dunkelheit auch noch abladen. Denn man tau.

Dritter Teil: Sitzübungen

2. Kapitel (Auszug)

Sonnabends war Badetag, Heißwasserboiler mit Kohlefeuerung, den musste man zwei Stunden vorher anheizen. Um drei waren die Kinder dran, und Romy: Wenn der da drin war, geh ich da nich mehr rein! Die schloss jetzt auch immer die Badezimmertür ab. Margarete Kortmeyer schnallte ihr Bein ab. Abends Tanz in Krones Gesellschaftssälen, Romy kuckte da immer, ob sie einer aufforderte, sie ging jetzt ja zur Tanzschule, Rock und Bluse, aber immer noch die langen Zöpfe, die waren unantastbar. Albin räumte die leeren Gläser von den Tischen, wer es sich leisten konnte hatte eine Flasche Wein bestellt, braunes Glas: Rheinhessen. Sonst Bier, auch die Frauen, das Tanzen machte durstig: Noch mal ‘nen Quickstepp? Erst roch es nach Veilchenseife und Rasierwasser, später nach Zigarettenrauch und Schweiß. Am Tresen tranken die Männer Schnaps, sie tanzten nicht, und wenn man Pech hatte, kotzte einer von denen später die Toiletten voll. Die Jüngeren soffen aus Liebeskummer, die Älteren, weil sie im Krieg gewesen waren. Manche auch nur so, weil ihnen nichts besseres einfiel. Strothmann Korn, Steinhäger und Wippermann Wacholder, eisgekühlt. Das Bier von Brauerei Strate aus Detmold, dort hatte man vor über fünfzig Jahren auch die Sinalco erfunden, sine alcohole (hatte Doktor Wittmann gewusst). Eine Marke von Welt. Die Band spielte einen Foxtrott auf der Melodie von Hänschen klein, der Pianist und die Klarinette improvisierten darüber, der Mann am Kontrabass spielte ein Solo und der Schlagzeuger auch und gegen Ende hin wurden sie so schnell, dass die Tänzer mit den Füßen nicht mehr nachkamen und nur noch auf der Stelle zappeln konnten. Ein Paar stieß mit Schwung an einen Tisch und alle Gläser kippten um: Das kost ‘ne Runde. Um zehn musste Albin ins Bett, die Mutter ging mit nach oben, kucken, dass die Zähne geputzt wurden, eine Treppenstufe mit dem gesunden Bein, dann das andere nachziehen. Runter umgekehrt. Immer eine Hand am Geländer (schön aus Holz gedrechselt und rotbraun lackiert). Das Licht bleibt aber aus, hörst du? Ja. Und dann doch noch ein Kapitel Karl May, wie Old Firehand die Tramps am Eagle Tail besiegte, nur der rote Cornel konnte wieder entkommen. Eagle heißt Adler. Nach ein paar Seiten siegte dann doch die Müdigkeit, sobald man im Bett lag, war man ihr ausgeliefert. Im Traum vermischten sich dann die Musik, die gerade noch im Ohr war, das Tanzen mit einem Ritt auf Mandub, dem jugoslawischen Zirkushengst. Die lange weiße Arabermähne. Standen die Artisten im Zirkus nicht freihändig auf den Pferden, während diese durch die Manege galoppierten? Er ritt den Schimmel über Felder und Höfe, durch Scheunen und Ställe hindurch, ohne den Boden zu berühren, so fühlte es sich an im Traum, der doch immer anders war als die Wirklichkeit. Er stellte sich vorsichtig auf den Rücken des Pferdes, erst in der Hocke, dann ganz aufrecht, sah alles unter sich mit dem Blick eines Vogels und flog mit Mandub über die Erde. Am nächsten Morgen war der Traum verschwunden, manche Träume erinnerte man beim Aufwachen, andere nicht. Sonntagmorgen, er war um sechs wach geworden, alle anderen im Haus schliefen noch, war wieder spät geworden, die Nacht davor, manche konnten ja kein Ende finden, die Tänzer nicht und die Trinker am Tresen auch nicht. Wach im Bett liegen und sich etwas ausmalen. Vor acht wurd’s nicht hell. Irgendwann war dann das Geklapper aus der Küche unten zu hören, die Mutter kam ins Zimmer: Nun steht man auf. Weißbrot mit Erdbeermarmelade und dazu eine Tasse Kakao, in Gedanken schon wieder auf’m Gutshof. Geduldig ließ er sich von seiner Mutter die Haare kämmen, was die da nur immer mit hatte? Um viertel nach neun fingen die Glocken an zu läuten: Wir müssen los. Großvater Krone rechts und links eingehakt von den Töchtern Paula und Margarete, Stock und Pelzkragen, Onkel Fritz, Tante Adelheid. Onkel Theo musste die Wirtschaft für den Frühshoppen vorbereiten (wie er sagte), er hatte es mit der Kirche nicht so, im Gastwirt sah er ein natürliches Gegengewicht zum Pastor, im Tresengespräch einen Ausgleich zur Predigt, die in der reformierten Kirche der Gemeinde viel Demut abverlangte, sowohl zeitlich wie inhaltlich: Gott begnadigt den Sünder aus freiem Entschluss, nicht weil der es verdient hätte. Wir sind dem Höchsten ganz ausgeliefert, Gott sei ungerecht und gerade darin liege seine Gerechtigkeit. Stand das in der Bibel? Man verstand es nur so halb. Beten in der Stille: Für die, die wiederkommen und für die, die in der Fremde bleiben. Bevor gegen elf die Kirchgänger männlichen Geschlechts auf eine lüttje Lage, ein Bier und einen Kurzen, vorbeikamen, hatte Theo Krone schon einen gut eingeschenkten Kognak getrunken. Es kamen immer noch einige Bauern mit der Pferdekutsche, den Pferden warf man Decken über, gegen die Kälte. Der eine oder andere größere Hof besaß ein Auto, die Gewieften hatten vor der Währungsreform von dem vielen Geld, das ihnen die Städter auf ihren Hamsterfahrten für Kartoffeln, Rüben und manchmal eine Schweineschwarte zugetragen hatten, Anteile an Molkereien, Textilfabriken und der Lippe Zucker AG gekauft, die sie nun gegen VW Käfer, Borgward, DKW oder auch einen Ford von Herrn Weege tauschten. Im Kindergottesdienst lernte man, dass Maria und Josef ganz arme Leute gewesen seien, die in Bethlehem niemand habe aufnehmen wollen, und die Kindergottesdienstkinder sollten dabei an die vielen Flüchtlinge denken, die immer noch unter ganz schwierigen Bedingungen lebten, und ein Junge sagte, da gäbe es doch jetzt staatliche Programme (das hatte der wohl bei seinen Eltern aufgeschnappt), und Fräulein Bruhne sagte ja und aber und dass es das bei Maria und Josef eben nicht gegeben hätte, kommt, wir singen noch ein Lied. Mit Gitarre und Rock und Pullover, der etwas kratzte: Meinem Gott gehört die Welt, meinem Gott das Himmelszelt, ihm gehört der Raum, die Zeit, sein ist auch die Ewigkeit. Dazwischen und danach hörte man aus der Kirche nebenan Orgel und Gesang der Gemeinde: Jerusalem, du hochgebaute Stadt. Ostwestfälische Männerstimmen, ordentlich laut. Fritz Krone dachte an das Sonntagskonzert im Radio, Tante Paula an den Hackbraten im Ofen. Mal ‘n ordentlicher Rinderbraten? Das is doch viell zu düer. Essen am großen Tisch in der Küche, sonntags mit Tischdecke. Zum Nachtisch Schokoladenpudding: Da hat se doch auch bestimmt wieder Wasser drangetan. Immer dieses Kniepige. Großvater Krone schickte Romy ins Backhaus: Da is noch Schlachsahne. Und: Albin könnte uns doch später etwas auf dem Klavier vorspielen, ein paar Weihnachtslieder? Leise rieselt der Schnee (was er nicht tat) und Vom Himmel hoch, da komm ich her. Leichte Stücke. Das mit den vielen guten Mär verstand er nicht, vielleicht sagte man früher so zu den Sachen. Seine Mutter sang leise mit, drei Stücke, das reicht, und Albin merkte, wie er beim Atmen die Zähne zusammenbiss, die Luft gleichsam versuchte durch die Poren hereinzuziehen: Mensch Junge, geht das schon wieder los? Schnell etwas Epinephrin durch die Nase ziehen, soll ich den Doktor holen? Nee, geht schon. Ich muss in die Küche, sagte Tante Paula und Onkel Fritz schaltete das Radio ein: Sonntagskonzert vom Westdeutschen Rundfunk aus Köln, in der Weihnachtszeit Bach und Händel (war der eigentlich auch evangelisch?). Wie früh das jetzt schon dunkel wird.

Er übte Klavier, aber das Notenlesen wollte nicht klappen. Hier wieder verspielt und da auch. Er schaute im Unterricht Herrn Nebelsiek auf die Finger. Was wissen Sie noch von meinem Vater? Dass er in der Zeit in Detmold abends in einem Lokal immer Ragtime gespielt habe. Und Saxophon. Damit habe er Geld verdient (ich, sagte Nebelsiek, wollte Lehrer werden). Wie das ginge, ein Ragtime? Er hatte sonnabends schon öfter dem Pianisten über die Schulter geschaut, wenn bei ihnen auf dem Saal eine Combo spielte. An eine Sache, sagte Nebelsiek, könne er sich erinnern, die sei ungefähr so gegangen (und spielte dann ein paar Takte). The Entertainer habe das Stück geheißen und man habe Negermusik dazu gesagt (wir müssten mal Noten besorgen). Mit links immer so ein schleppender Rhythmus, als wenn jemand hinkt. Wenn du willst? Ja, sagte Albin.

Das Islandtief war bis in die Deutsche Bucht vorgerückt und saugte die Luftmassen in sich hinein. Graupelschauer und weiterhin unbeständige Wetterlage. Im Radio gaben sie die Meldungen der Wetterstationen durch: Helgoland nordnordwest fünf bis sechs, Schauer, zwei Grad; Kahler Asten west drei, minus drei Grad; Zugspitze südwest zwei, leichter Schneefall, minus fünf Grad. Vielleicht gab es ja doch noch weiße Weihnachten? Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit?, summte Margarete Kortmeyer über einer Häkelarbeit, während der Einzelhandel die Lage kritisch betrachtete: Bei Schnee blieben die Leute zuhause. Fritz Krone hatte fürs Weihnachtsgeschäft besondere Delikatessen geordert: Eiswein und Edle Früchte in Rum, echte Gänseleberpastete aus Frankreich. Der Christstollen kam aus der eigenen Bäckerei (natürlich mit guter Butter). Im Laden roch es nach Mandarinen. Die Konservendosen waren kunstvoll und mit Stolz gestapelt: Seht her. Und kauft. Ans neue Geld hatte man sich ja längst gewöhnt: Gedruckt von den Amerikanern sah’s ein bisschen aus wie Dollarnoten, nur die Fünfziger und Hunderter waren eigen, mit irgendwelchen Köpfen drauf, Albrecht Dürer, mit Wasserzeichen, wenn davon mal einer in der Kasse war, kuckte man sich den genau an. Romy im weißen Kittel: Darf’s noch etwas mehr sein? Und Frau Maschinenfabrik Brakensiek hatte eine Kiste Sekt vorbestellt, Fürst Metternich, wer hat, der hat. In der Zeitung konnte man lesen, dass es in Chicago ein Schneechaos gebe und die ganze Millionenstadt zuhause festsitze: Stell dir vor, du wohnst da? Im Leben nich. In Chicago wurde der Jazz erfunden, von den Schwarzen, hieß es. Aber dann auch wieder: Afrikaner im Schnee, vertragen die das überhaupt? Solche Sorgen möchte man haben. Das Schöne an Weihnachten war, dass es eigentlich immer gleich, aber doch auch immer wieder neu war. Je näher Heiligabend rückte, um so kribbeliger wurden alle, vielleicht hatte man dafür die strengen Regeln erfunden, die Rituale, damit das nicht aus dem Ruder lief. Der Krieg war jetzt schon so lange vorbei, sechseinhalb Jahre. Wenn man so drüber nachdenkt: Wie wir das überstanden haben? Ob Vati vielleicht doch noch zurückkommt? Das war der Wunsch Margarete Kortmeyers, den sie aber nicht laut aussprach (nicht allzu laut). Dass nochmal alles anders werden könnte. Die Russen sollen jetzt ja noch mal viele freigelassen haben (stand in der Zeitung), eigentlich seien das ja auch Christenmenschen. Andererseits, Sibirien, das hätten ja auch viele nicht überlebt. Inzwischen wäre er über fünfzig. Man muss sich ablenken. Margarete Kortmeyer handarbeitete, buk Krapfen und spülte mit fast kochendem Wasser Geschirr und Töpfe. Albin las Karl May und stahl sich davon.

Im leichten Sitz

Stückpreis: 27,00 EUR
(inkl. 7,00 0% MwSt. und zzgl. Versandkosten)

Mit Illustrationen von Isabelle Hannemann.

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ISBN 978-3-00-057671-3

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