Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht ein neues Buch erscheint, das die Geschlechterverhältnisse und unser Sexualleben anhand der Evolutionsbiologie und Genetik erklärt. Angefangen bei Richard Dawkins‘ Klassiker „Das egoistische Gen“ über Geoffry Miller und Frans de Waal bis zum jüngsten Werk des Konstanzer Professors Axel Meyer („Adams Apfel und Evas Erbe“) ist den Werken gemein, dass sie zunächst seitenlang über vergleichsweise unspektakuläre Erkenntnisse der Biologie der Einzeller und niederen Tiere referieren, um dann im kühnen Schwung über ausgewählte Deutungen der Primatenforschung zum Angriff auf die Geschlechterforschung (gender studies) zu blasen, deren These von der kulturellen Konstruiertheit der menschlichen Geschlechter sie schnell Unwissenschaftlichkeit unterstellen. Dass sie selbst mit ihren Schlussfolgerungen jenseits wissenschaftlicher Standards liegen, scheint sie dabei kaum zu stören: Der Übergang vom Tier zum Menschen erfolgt in empirisch nicht belegbaren Analogieschlüssen – hier finden die durchweg männlichen Autoren im Affenverhalten das bestätigt, was sie schon immer meinten über Frauen und Männer zu wissen – und zudem lassen sie eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Kulturwissenschaft vermissen. Letzteres wäre aber die mindeste Voraussetzung, um den Anspruch auf Wissenschaft erheben zu dürfen.
In der Forschung bleiben derartige Publikationen denn auch ohne Relevanz. Von einer breiten Öffentlichkeit werden sie aber begierig aufgesaugt. So wird mit der Popularität eines Forschungsgebietes, der Evolutionsbiologie und Genetik, schamlos Bio-Politik betrieben. Die steilen Thesen von der vermeintlichen „Natur“ des Menschen stützen direkt oder indirekt reaktionäre Geschlechterbilder rechts-populistischer Bewegungen. Unter dem Deckmantel der Wissenschaft werden so Machtansprüche verteidigt. Der französische Philosoph Michel Foucault hat schon in den 1960er Jahren mit vielen Belegen herausgearbeitet, dass Naturwissenschaft eben nicht neutral und objektiv ist, sondern immer im Kontext von Herrschaftsverhältnissen stattfindet. Gegenüber ihren eigenen kulturellen Grundlagen ist die Biologie aber traditionell weitestgehend blind.
Mit diesem Sachverhalt habe ich mich in vögeln intensiv auseinandergesetzt und ihn unter anderem im Kapitel „Natürliche Körper“ behandelt, aus dem hier ein Auszug zu lesen ist.
Natürliche Körper
Die Natur gibt es nicht. Man kann diesen Satz nacheinander auf all seinen einzelnen Wörtern betonen, er ist in jeder Façon richtig. Aber die Philosophie hat die Natur bis auf den heutigen Tag immer als etwas Gegebenes betrachtet, sei es nun von einem vernünftigen Gott oder von einer vergötterten Vernunft namens Evolution hervorgebracht. Die Natur wird definiert als das, was nicht vom Menschen gemacht ist – dabei ist nichts so sehr vom Menschen gemacht wie die Natur. Es gibt keine Natur von Natur aus, ohne zutun des Menschen. Immer, wenn wir auf die Natur verweisen, beim „Naturvolk“ ebenso wie bei der „Naturkost“, beim „Naturschutz“ ebenso wie bei der „natürlichen Verhütungsmethode“, verweisen wir auf ein Konstrukt. Wir müssen also die Bedeutung dieser Konstruktion des Naturbegriffs herausarbeiten, um zu verstehen, warum sich der Glaubenssatz von der natürlichen Natur so hartnäckig hält.
Früher, so heißt es, lebten die Menschen im Einklang mit der Natur. Was heißt das, außer dass hier wieder einmal jemanden die Sehnsucht befällt? Das heißt, dass auch im Einklang die Natur ein Anderes ist. Die Entfremdung, die man für sich selbst diagnostiziert, hat der Naturbegriff längst im Gepäck. Das Naturvolk ist eben nicht Natur, die Naturkost ist genauso Kultur wie der Schweinebraten, wenn wir die Natur schützen, dann konstruieren wir sie in dem Moment als Sehnsuchtsort des erschöpften Menschen, und dass unsere Sexualität insgesamt eine Kulturleistung ist, haben wir bereits mehrfach gesehen. Ersetzen wir „Einklang“ durch „Imitation“ und „früher“ durch „zyklisches Zeitbewusstsein“. Im Begriff „Einklang“ steckt schon zuviel Harmonie, zuviel Gefühlsduselei (für die die Natur auch immer herhalten muss). Der Mensch kann sich die Natur, insofern er Mensch ist, nicht direkt aneignen, sondern immer nur symbolisch, oder besser: symbolisierend (wovon die Imitation ein Fall ist). Dort, wo der Mensch der zyklischen Zeit die Bewegungen der Natur imitiert, seine Lebensbewegungen den großen (und kleinen) kosmischen Bewegungen verähnlicht, begreift er diese „natürlichen“ Bewegungen immer schon als etwas. Der Lauf der Sonne, die Phasen des Mondes, die Jahreszeiten, Trockenheiten, Überschwemmungen, das ganze werden und vergehen sind nicht nur das, was sie sind, sondern zugleich immer auch Symbol: die Sonne der Gott, der Mond die Göttin (oder umgekehrt?), der Wind der Geist, der Fluss der Dämon. Und als solche dann Herrschaft, Kampf, Zuneigung, Wille, Fruchtbarkeit, Tod und so fort. Auch im zyklischen Zeitbewusstsein ist die Natur untrennbar mit der Erzählung von ihr verbunden und geht am Ende vollständig in dieser Erzählung auf.
Im Übergang vom Mythos zum Logos, von der ersten Simulation (Imitation) zur zweiten Simulation (Theorie) wendet nun die Vernunft ihre Kategorien auf die Natur an – die Natur selbst wird dadurch zur Simulation der Vernunftbegriffe und dabei insbesondere ihrer binären Logik unterworfen: belebt/unbelebt, nützlich/schädlich, männlich/weiblich, Jäger/Beute und so fort. Diese Erscheinungen sind also nicht aus der Natur (als Natur) genommen, sondern zuallererst in sie hineingetragen. So, wie durch den abrahamitischen Bruch die Geschlechter auf den Vernunftkörper reduziert wurden, so wird nun auch die Natur vernünftig und folgt – siehe da! – Naturgesetzen. Die besseren unter den Philosophen, die Physiker, haben schon vor längerer Zeit eine gesunde Skepsis gegenüber diesen „Naturgesetzen“ und ihrem ontologischen, d.h. seinsmäßigen Status entwickelt, sie sind Ironiker, wenn sie ihre großen kosmologischen Gedankengebäude errichten; für die Kulturwissenschaftler ist die Gemachtheit der Natur quasi Geschäftsgrundlage, für die jüngere Geschlechterforschung sowieso. Nur die traditionelle Philosophie mag immer noch nicht von den großgeschriebenen Hauptwörtern lassen, von Begriffen wie „Substanz“, „Essenz“ oder „Wesen“ (weshalb sie auf die Kulturwissenschaftler gerne als frivole Luftikusse herabblickt).
Wo der Logos den Mythos ablöst, mit der Geburt der Philosophie, tritt die Natur aus der Erzählung heraus, oder auch: an die Stelle der Götter, Geister, Dämonen, um im selben Moment wieder mystifiziert zu werden. Die Bivalenz der Vernunftlogik simuliert sich jetzt im Naturbegriff selbst, der die Natur einmal als vernünftig, dann wieder als unvernünftig, einmal als Ordnung, dann als Wildheit, einmal als sanft, dann als brutal vorstellt. Im gleichen Maße übrigens, wie sich die Bivalenz der Vernunftlogik auf den monotheistischen Gott übertragen hat, der sowohl liebend wie strafend ist, eifersüchtig wie großzügig, allmächtig wie gnädig. Spätestens, wenn man diese Spielarten des Naturbegriffs betrachtet, muss einem klarwerden, dass die Rede von „der Natur“ als einem seinsmäßig Gegebenen blanker Unsinn ist. Indem die Vernunft für sich selbst beansprucht, naturgemäß zu sein, setzt sie den Naturbegriff als Herrschaftsinstrument ein, ohne sich dessen bewusst zu sein (kann denn Vernunft Sünde sein?). Insofern wir das Vernunftgeschlecht mit dem männlichen Geschlecht identifiziert haben, können wir sogar soweit gehen zu sagen, dass „Natürlichkeit“ ein Kampfbegriff der Männerherrschaft ist. Ich spitze hier bewusst so zu (den Waffen ist es egal, welche Partei sie ergreift). Denn wer an dieser Stelle einwendet, es gebe doch aber biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die nicht zu leugnen seien, objektive Tatsachen seien: der Penis, die Vagina, der Samen, die Eizelle – der ist schon in die Falle getappt. Er will nicht wahrhaben, dass der Übergang vom Wissen von den Dingen der Natur zum Wissen von der Natur der Dinge schon immer einen Fehlschluss darstellt. Nie nämlich reden wir von den biologischen Unterschieden zwischen Mann und Frau („der kleine Unterschied“!), ohne damit zugleich etwas (ganz anderes) sagen zu wollen. Der Verweis auf die Biologie ist uns zum Feigenblatt einer metaphysischen Rede geworden (die „Entzauberung“ der Natur), ohne dadurch aufzuhören, selbst Metaphysik, also Vernunftherrschaft zu sein. Es sei nun einmal, heißt es dann, eine biologische Tatsache, dass die Frau die Kinder gebäre und nicht der Mann. Und auf dieser scheinbar so objektiven Tatsache wird dann ein ganzes ökonomisches System aufgebaut (um nur ein Beispiel zu nennen), das jeder, die nicht zum Vernunftgeschlecht gehört, den Zutritt verweigert – nicht aus moralischen Erwägungen, sondern unter Verweis auf die Natur. Dabei ist die Frau als Gebärende schon eine Reduktion, die sich aus der Konstruktion des Mannes als dem Zeugenden ergibt.
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