Deutschlandfunk Kultur, Beitrag vom 1.2.2018:
Im Herbst, genauer am 24. Oktober, konstituierte sich der aktuelle Deutsche Bundestag. Das ist genau 100 Tage her, und wir haben – ein neuer Rekord – immer noch keine richtige Regierung. Der Philosoph Matthias Gronemeyer sieht darin aber sogar eine Chance. Er freut sich richtig darüber.
Vermissen Sie etwas? Eine Regierung zum Beispiel? Ich nicht. Weihnachten ging ohne Explosionen über die Bühne, mein Supermarkt macht pünktlich um acht auf und der DAX steht verlässlich bei 13.000 Punkten. Keine Plünderungen, keine Massenflucht, keine Schießereien auf offener Straße. Dabei haben wir heute seit 100 Tagen Anarchie in Deutschland.
100-Tage-Bilanz der Nicht-Regierung fällt positiv aus
Ist das nicht wunderbar: Wir haben keine (zumindest keine richtige) Regierung – und nichts passiert! Also nichts Schlimmes. Nie war weniger Chaos in Deutschland. Die 100-Tage-Bilanz dieser neuen Nicht-Regierung fällt durchweg positiv aus.
Da drängt sich der Verdacht auf, dass die große Politik auch immer großes Theater ist. Das Wehklagen kommt denn auch am lautesten von denen, die sich in der neuen Spielzeit eine Rolle erhofft hatten, eine Regie, eine Intendanz oder wenigstens einen Job als Beleuchter. Parteiführern, Lobbyisten und den Hofberichterstattern ist plötzlich das erhebende Gefühl der Seinsnotwendigkeit abhanden gekommen.
Aber außer der üblichen Phrasendrescherei fällt ihnen nichts ein: Man müsse doch endlich und überhaupt Verantwortung übernehmen, die europäischen Freunde nicht beunruhigen, das Staatsschiff auf Kurs halten in den Wogen der Globalisierung und so weiter. Der Gipfel des Unsinns wurde zuletzt mit der Behauptung erreicht, nur eine Neuauflage der großen Koalition verhindere ein weiteres Erstarken des rechten Randes. Das ist keine Komödie mehr, das ist eine Farce.
Wir haben die „stabile Mehrheit“ abgewählt
Aber mal im Ernst: Wir sollten die Chance nutzen. Nie war sie so günstig. Die deutsche Nachkriegsdemokratie war – machen wir uns da nichts vor – eine Geburt aus dem Geiste des Führerkults. Dass das unmündige Volk eine starke führende Hand brauche, stand nie außer Frage (nur sollte da eben kein schwarzes Bärtchen mehr dranhängen). Inzwischen haben wir uns aber emanzipiert und die stabile Mehrheit abgewählt.
Niemand lässt sich gerne gängeln, im Kern ist jeder von uns ein Anarcho. Die Anarchie hatte nur deswegen immer einen so schlechten Ruf, weil sie gerne mit Gesetzlosigkeit verwechselt wird. Das ist historisch verständlich, schwammen doch die großen anarchistischen Vordenker wie Bakunin und Kropotkin im Kielwasser der kommunistischen Revolutionen mit. Unter einem autoritären Regime wie dem zaristischen Russland waren Herrschaft und Gesetz identisch – die Befreiung von der Herrschaft bedeutete also auch die Befreiung vom Gesetz. Das musste notwendig scheitern.
Ein gut funktionierendes Gemeinwesen
Heutzutage und bei uns liegen die Dinge aber anders. Deutschland ist nicht von Diktatur und Revolution zerrüttet, sondern ist ein gut funktionierendes Gemeinwesen. Und besitzt zudem mit dem Parlament und seinen Ausschüssen ein etabliertes Verfahren der herrschaftsfreien Gesetzgebung. Mit dem Wahlergebnis vom 24. September hat das Volk zum Ausdruck gebracht, nicht mehr regiert werden zu wollen.
Es hat ein Bekenntnis zur politischen Vielfalt abgegeben und den Abgeordneten den Auftrag erteilt, damit klarzukommen. Was zunächst als Fluch erscheint, könnte sich als Segen entpuppen: Ohne Regierungsmehrheit kann das Gesetzgebungsverfahren nicht mehr von großsüchtigen Profilneurotikern missbraucht werden. Kein Geschacher um Ministerämter mehr, keine Karrieren, keine Seilschaften. Das Höchste, was man werden kann, ist: Abgeordneter.
Und welch ein Signal ginge aus an all die machtgeilen Popanze in der Welt: Seht her, wir haben die Macht abgeschafft! Das würde, da bin ich mir sicher, so manche Aufgeblasenheit implodieren lassen.
Anarchie in Deutschland: Das ist keine wilde Vision, sondern ein offenes Fenster mit frischer Luft. Wir sollten es nicht aus lauter Schiss wieder zuschlagen. Ganz ehrlich.