Die Vernunft des Terrors

Radiobeitrag vom 23.11.2015, hier in einer etwas längeren Fassung.

Politisches Feuilleton vom 23.11.2015

Politisches Feuilleton vom 23.11.2015

Jetzt haben sie es wieder getan. Wie schon soviele Male zuvor. Mitten ins Herz der westlichen Welt, der freien Welt, der aufgeklärten Welt. Wieviele Tote sind es inzwischen schon? Man kann sie kaum noch zählen. Fast ein Wunder, dass es einen selbst noch nicht getroffen hat. Dieses Es: der Terror.

Und jetzt werden wir wieder reagieren, die Einheit unserer Werte beschwören, die Überwachung verstärken, Freiheiten einschränken, aufrüsten und die sogenannten Ursachen des Terrors bekämpfen, oder es zumindest versuchen. Doch der nächste Anschlag wird kommen. Wir werden dieses Andere, das sich mit solcher Vehemenz gegen uns richtet, nicht besiegen können. Denn dieses Andere, das sind am Ende wir selbst. Die aufgeklärte Vernunft, die die Freiheitswerte der westlichen Welt hervorgebracht hat, und der Terrorismus, der sie zerstören will, sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Um das zu verstehen, müssen wir zu den gemeinsamen Anfängen zurück, zur gemeinsamen Wurzel von universeller Vernunft und Monotheismus. Im biblischen Abraham-Mythos, der von den Anfängen des Glaubens an den einen Gott berichtet, wird auch die Geschichte des Kampfes Abrahams gegen den sumerischen König Kedor-Laomer erzählt. Dieser hatte mit seinem riesigen Heer die Stadt Sodom überfallen und geplündert und dabei auch Abrahams Neffen Lot mitsamt dessen Familie verschleppt. Als Abraham davon erfährt, eilt er dem Heer mit einem kleinen Haufen seiner Schafhirten nach Norden nach, überfällt das Heerlager in der Nacht von zwei Seiten, metzelt fast alle nieder und jagt den Flüchtenden, einschließlich dem König, noch so lange hinterher, bis auch der letzte getötet ist. In diesem ersten Vernichtungsfeldzug unserer Kulturgeschichte dokumentiert sich der Allmachtsanspruch des Gottes der Juden, Christen und Muslime, die Universalität des vernünftigen Gottes, der alles geschaffen hat und der alles lenkt. Dieser Universalitätsanspruch ist nun aber derselbe, den die aufgeklärte Vernunft für sich und ihre Menschenrechte reklamiert. Sie hat den vernünftigen Gott in den Gott der Vernunft überführt; sie ist, wenn man so will, „Monotheismus ohne Götzendienst“. So hatte es der berühmte Marquis de Sade formuliert und in seinen Büchern hatte er uns direkt im Anschluss an die europäische Aufklärung gezeigt, wie sich der Totalitarismus der Vernunft in die totale Grausamkeit verkehren kann. Die Freiheit und die Unfreiheit stehen sich nicht als Feinde gegenüber, sondern in einer dialektischen Beziehung zueinander. Der Anspruch einer allumfassenden Freiheit ist in sich widersprüchlich, weil er genauso totalitär ist wie der Feind, gegen den er sich richtet. Denn was Alles ist, ist zugleich nichts. Um Etwas zu sein, muss es immer ein Anderes geben, das dieses Etwas nicht ist. Die totale Vernunft und der totale Gottesglaube müssen sich daher gegen sich selbst kehren, weil es ein Anderes für sie per Definition nicht geben kann. Im Terror und im Krieg gegen den Terror stehen sich also nicht ein freiheitlicher Westen und ein unaufgeklärter Orient gegenüber, sondern ein und derselbe Universalitätsanspruch, dessen innere Widersprüchlichkeit nun offen zutage tritt.

Dass der Terrorismus der letzten zwei Jahrzehnte vorrangig islamistisch ist, liegt also nicht in einer prinzipiellen kulturellen Differenz begründet, sondern allein an einem günstigen Nährboden. Wir sehen keinen zionistischen Terror, weil der bewaffnete Kampf seit Jahrzehnten verlässlich von der offiziellen israelischen Armee erledigt wird. Sollte sie einmal in diesem Kampf nachlassen, greift aber auch das radikale Judentum schnell zur Waffe, wie man insbesondere am Attentat auf Itzak Rabin gesehen hatte. Wir sehen keinen evangelikalen christlichen Terror, weil die fundamentalistischen Jesus-Anhänger bestens in die westliche Ökonomie integriert sind. Welches Potenzial zur Gewalt aber auch in ihnen steckt, lässt sich immer wieder in den USA beobachten. Die Bürgerkriege in vielen islamischen Ländern, die mangelnde Integration in Europa und die Hegemonie einer globalisierten Ökonomie sind also nicht die Ursachen des Terrors, sondern lediglich die ihn begünstigenden Umstände.

So richtig es ist, an diesen Umständen etwas zu ändern, so richtig es auch ist, den IS militärisch zu bekämpfen, eine dauerhafte Lösung ist es nicht. Wenn angesichts der Anschläge, angesichts der Toten die Einheit der westlichen Wertegemeinschaft gegen den Fundamentalismus beschworen wird, dann droht diese Wertegemeinschaft sich mit ihrem Gegner gemein zu machen. Die Antwort auf den Terror sollte also nicht lauten: Mehr Festigkeit, sondern: Mehr Flüssigkeit. Mehr Durchlässigkeit, Vielfalt, Differenz. Und auch wenn es paradox klingen mag: Weniger Vernunft. Angesichts der realen und empfundenen Bedrohung die Grenzen für Zigtausende zu öffnen, war vielleicht völlig unvernünftig – aber genau deswegen das Richtige.

Es wäre, nach den Anschlägen von Paris, sicherlich vernünftig Angst zu haben. Ich habe keine.