Warum Betteleinnahmen nicht auf den Hartz-IV-Satz angerechnet werden dürfen
In einem aktuellen Fall hat das Jobcenter Dortmund entschieden, dass einem Bettler seine „Einnahmen“ nicht vom Hartz-IV abgezogen werden. Das war nicht schon immer so. Eine kleine philosophische Argumentationshilfe.
„Deutschland ganz unten“ betitelte die Süddeutsche Zeitung etwas zweideutig am 28. März 2009 ihren Bericht über einen Göttinger, dem der Hartz-IV-Satz um sein „Einkommen“ aus Betteln gekürzt wurde. Das Thema war es der Redaktion wert, auf Seite eins behandelt zu werden. Andere Blätter stießen ins gleiche Horn. Empören wir uns zu Recht, wenn bei denen, die in unserer Gesellschaft am wenigsten begünstigt sind, das Gesetz mit besonderer Strenge angewandt wird? Noch nie habe, behauptete Ralf Wiegand in der SZ, „das Sozialthermometer in Deutschland eisigere Temperaturen angezeigt“.
Nun empören wir uns oft über alles Mögliche und sicherlich nicht immer zu Recht. Moral mit Gefühl zu vermengen, ist eine nicht ganz ungefährliche Angelegenheit, und das richtige Sich-Empören will – das wusste bereits Aristoteles – gelernt sein.
Neben der moralischen hat die Angelegenheit zunächst natürlich eine rechtliche Seite. Der Sachbearbeiter hatte einige Male in die Blechbüchse des Bettlers gelugt und aus den dort erspähten Beträgen ein monatliches „Einkommen“ von rund 120 Euro errechnet. Genau um diesen Betrag wollte er ihm dann die staatliche Zuwendung kürzen. Das Gesetz sieht aber vor, dass Einkünfte bis 400 Euro monatlich nur zu 85 Prozent angerechnet werden. Das nimmt der Angelegenheit allerdings nichts von ihrem Empörungspotential.
Die Zuwendungen, die Hartz-IV-Empfänger erhalten (und die sich inklusive Miete und Krankenversicherung schnell auf tausend Euro und mehr pro Person belaufen), sind eine Leistung ohne Gegenleistung. Dass der Staat prüft, ob wirklich Bedürftigkeit vorliegt, erscheint daher völlig legitim – wir dürfen insofern vermuten, dass der Sachbearbeiter durchaus rechtmäßig handelte, wenn auch eventuell mit gewissen Abstrichen.
Ich will das Verhalten des Sachbearbeiters und das des Bettlers zunächst einmal anhand einiger moralphilosophischer Regeln überprüfen. Bei Immanuel Kant spielen Emotionen für das moralische Urteil keinerlei Rolle, und er scheint daher für den vorliegenden Fall ein geeigneter Ansprechpartner zu sein. Die Maximen unseres Handelns müssten, so lehrt er uns im kategorischen Imperativ, jederzeit das Potential haben, allgemeines Gesetz werden zu können. Die Maxime des Sachbearbeiters könnten wir nun wie folgt reformulieren: „Ich will jede Gelegenheit nutzen um zu prüfen, ob Leistungsempfänger zusätzliche Einkünfte erzielen und die staatliche Hilfe dann um diesen Betrag kürzen.“ Kann dies allgemeines Gesetz werden? Die Nagelprobe besteht bei Kant im Nachweis der Widerspruchsfreiheit bei Anwendung des Gesetzes. Ich denke, dass die Maxime des Sachbearbeiters diesen Test problemlos besteht. Man kann über die Höhe der Hartz-IV-Sätze streiten, aber sie führen sicherlich nicht in Unterernährung, Obdachlosigkeit und Krankheit. Wenn die Höhe des Betrages also existenzsichernd ist, dann ist sie es auch, wenn sie sich aus verschiedenen Quellen (staatliche Zuwendung und Betteln) speist.
Wie sieht es mit dem Verhalten des Bettlers aus? Seine Maxime könnte lauten: „Wenn ich anderweitig nicht in der Lage bin, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten und auf staatliche Hilfe angewiesen bin, dann will ich meine Lage dadurch verbessern, indem ich mir von fremden Menschen zusätzlich etwas erbitte.“ Die Widersprüchlichkeit fällt sofort ins Auge: Die Idee der Existenzsicherung wird dadurch konterkariert, dass der Bettler sie individuell umdefiniert. Individuelle Bedürfnisse taugen aber nicht zum allgemeinen Gesetz. Ein weiteres kommt hinzu: Aus Bertold Brechts Dreigroschenoper kennen wir Jonathan Jeremiah Peachum, der mit seiner Firma „Bettlers Freund“ das Betteln gewerbsmäßig organisiert und seine „Angestellten“ dafür mit mitleiderregenden Kostümen und Geschichten ausstattet. Unter Vortäuschung einer Notlage von anderen Geld zu erbetteln, ist aber Betrug und wird nach § 263 StGB bestraft. Wessen Existenz durch staatliche Zuwendungen gesichert wird, befindet sich aber, wie wir festgestellt haben, eben nicht in einer Notlage. Mit Kant müssten wir also die Empörung zurückweisen.
Ist der Fall damit erledigt? Kants Moralphilosophie trifft oft der Vorwurf der Herzlosigkeit und man könnte gegen ihn einwenden, dass summum ius hier eben auch summa iniuria bedeute und daher was des einen Recht, an dieser Stelle auch einmal des Anderen Billigkeit sein müsse, man dem Bettler also seine paar Euro zubilligen solle. Moral nach Gefühl (Emotivismus) birgt aber immer die Gefahr der Parteilichkeit, der Willkür und des Irrtums. Um das zu vermeiden, müssen wir unser moralisches Empfinden einem Universalisierbarkeitstest unterziehen. Der könnte in der Überlegung bestehen, ob wir auch dann bei unserem Urteil bleiben würden, wenn wir uns in der Rolle des anderen befänden. Jede Regel, die diesen Test besteht, ist dann zugleich moralisch verbindlich. Der englische Philosoph Richard M. Hare nennt dieses Verfahren universellen Präskriptivismus. Würde der Bettler als steuerzahlender Staatsbediensteter einem Hartz-IV-Empfänger die zusätzlichen Einnahmen zubilligen oder nicht? Es ist zumindest vorstellbar, denn der Schaden, den er erleidet (weil von seinem Steuergeld mehr umverteilt wird als unbedingt nötig), ist so gering, dass man darüber hinwegsehen könnte. Umgekehrt könnte der Sachbearbeiter aber auch glaubhaft versichern, dass er sich im Falle der Bedürfigkeit an die strengen Gesetze halten wolle. Die Goldene Regel („Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“) legitimiert beide Positionen und bringt uns also auch nicht weiter.
Der Bettler und diejenigen, die sich für ihn empören, scheinen also in der moralischen Defensive zu sein. Ich bin trotzdem der Auffassung, dass es falsch ist, die Betteleinkünfte auf die staatliche Hilfe anzurechnen – nicht etwa, weil dadurch implizite oder explizite Rechte des Bettlers verletzt würden (da teile ich Kants Argumentation), sondern weil eine andere Art von Gerechtigkeit damit unterminiert wird.
Aristoteles unterscheidet in seiner Nikomachischen Ethik zweierlei Arten von Gerechtigkeit: zum einen die Vertragsgerechtigkeit, bei der es um den gerechten Ausgleich zwischen zwei Vertragspartnern geht (z.B. beim Kauf einer Ware) und zum anderen die Verteilungsgerechtigkeit, die den Ausgleich gesamtgesellschaftlicher Zustände zum Ziel hat. Die Vertragsgerechtigkeit nennt er auch arithmetische Gerechtigkeit, ihr geht es um das quid pro quo – sie wird im Falle des Bettlers nicht verletzt, weil ihm genau das abgezogen wird, was er zusätzlich einnimmt. Maßstab für die Verteilungsgerechtigkeit ist indes nicht der Gegenwert einer Leistung, sondern Bedürftigkeit. Staatliche Existenzsicherung ist eine solche Leistung ohne Gegenleistung, die sich an der Bedürftigkeit der Empfänger orientiert. Dieser zweiten Art von Gerechtigkeit spricht Aristoteles zudem ab, sich mit mathematischer Genauigkeit bestimmen zu lassen – welches Maß an Umverteilung also angemessen ist, darüber kann man verschiedener Auffassung sein. Und genau hier liegt der Knackpunkt des vorliegenden Falles: Betteln fällt in den Geltungsbereich der Verteilungsgerechtigkeit, weil derjenige, der dem Bettler gibt, dafür keine direkte Gegenleistung erwartet. Unter der Voraussetzung, dass der Bettler die Passanten nicht über seine wahre Lage täuscht (das Betteln also gewerbsmäßig betreibt), steht es ihnen frei, ihre eigenen Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit durch ihre Gabe umzusetzen. Einer mag die Hartz-IV-Sätze als menschenunwürdig niedrig erachten und sich daher sagen: „Wenn ich die Gelegenheit habe, so einem armen Menschen mit ein paar Cent oder einem Euro etwas unter die Arme zu greifen, dann will ich sie nutzen“. Eine Maxime, die problemlos jeden Universalisierbarkeitstest besteht. Wenn ich nun aber davon ausgehen muss, dass dem von mir mit einer kleinen Gabe bedachten Bettler dieses Geld sofort wieder abgezogen wird, dann werde ich an der selbstfinanzierten Verwirklichung meiner Gerechtigkeitsvorstellungen gehindert. Zugespitzt könnte man das Nötigung nennen. Und das ist ungerecht.
Die Empörung, mit der wir den Göttinger Fall begleiten, liegt also weniger in der Person des Bettlers begründet, sondern darin, dass uns verweigert wird, eine von der aktuellen Gesetzeslage abweichende Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit zu haben und diese auch zu leben. Und das ist in der Tat eine Empörung wert. Die Paragrafen des SGB II lassen sich durchaus dahingehend auslegen, dass sie kleinere Geldgeschenke vom anrechenbaren Einkommen ausnehmen. Das hätten der Göttinger Sachbearbeiter bzw. sein Dienstherr beherzigen sollen.