Auf der Suche nach Europas Identität

Der Beitrag wurde am 19.5.2014 auf Deutschlandradio Kultur gesendet.

Bald ist Europawahl und wenige werden hingehen. Viele Intellektuelle mahnen daher eine europäische Idee an und warnen vor der Gefahr von rechts. Es ist das immer gleiche Spiel: aufgeklärte Eliten stellen sich dumpfen Populisten entgegen. Doch was sie denen vorwerfen, tun sie natürlich selbst. Sie schüren Ängste vor einem Gegner, um sich selbst zu vergewissern, um sich zu beweisen, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Ein neues Patriziertum, das den Pöbel nicht mit am Tisch haben möchte, erfindet sich.

Es wünscht sich eine universelle Identität, bemüht sich aber nur um eine besondere. Dieser Mechanismus, wie sich Gruppenidentitäten konstituieren, ist in der Sozialpsychologie seit langem bekannt. Von der Familie bis zur Nation hilft das Freund-Feind-Schema auszudrücken, nicht so sein zu wollen wie die anderen. Identität ist eben immer auch, was man nicht ist.

Eine europäische Identität kann nicht herbeigewollt werden. Sie ist weder ein Produkt von Aufklärung noch ein Geschenk des Himmels. Sie wird sich nur dann herausbilden, wenn Europäer wissen, wofür sie stehen und wovon sie sich deswegen distanzieren.

So ist die Distanz zu den Vereinigten Staaten derzeit nicht nur ein geographische. Das transatlantische Bündnis bezog seine Anziehungskraft einst aus der europäischen Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, aber die hat als große Erzählung ihre Bindungskraft längst verloren. Europa denkt über Datenschutz anders. Sich gegen die Hegemonie von Big Data zu wehren, gegen die Allmacht von Geheimdiensten und Suchmaschinen könnte ein Merkmal europäischer Identität sein.

Eine ureuropäische Erfahrung, um nicht zu sagen: Erfindung, ist die Säkularisierung. Kirche und Religion zur Privatangelegenheit zu erklären, bereitete einst den Boden der Toleranz. Die Europäer täten sich keinen Gefallen, wenn sie dem religiösen Fundamentalismus wieder Raum geben würden – aus welcher Angst auch immer.

Toleranz und Emanzipation sind also weitere Merkmale, die ein modernes Europa ausmachen könnten. Kleidervorschriften und Homophobie sind es definitiv nicht, wohl aber Respekt vor dem Anderssein,  Gleichstellung der Geschlechter und eine Sexualmoral ohne Zeigefinger.

Europa hat aber noch mehr zu bieten als kultivierten Antiamerikanismus oder Religionskritik, etwas sehr Eigenes und Charakeristisches. Nirgendwo sonst auf der Welt werden auf so engem Raum so viele Sprachen gesprochen. Und hinter diesen Sprachen stehen ebenso viele Kulturen, politische und wirtschaftliche Kulturen, Traditionen der Bildung, und auch Subtiles wie Wahrnehmung, Ausdruck und Ästhetik.

Sprache macht einen Unterschied. Und dieser Unterschied kann Identität stiften: Ja, wir sind anders, weil wir damit umgehen, dass wir uns unterscheiden! So paradox es klingen mag: Wenn es etwas gibt, das Europa eint, dann das Bekenntnis zur Differenz.

Mit dem Handel, dem Reisen, dem Fernsehen, dem Internet nähern sich Lebensstile einander an. Dann noch von oben zusätzlich ex cathedra aus Brüssel nationale oder regionale Besonderheiten homogenisieren zu wollen, bewirkt nur Frust. Die Hochschulreform, die alle landes- und sprachtypischen Abschlüsse zugunsten von Bachelor und Master getilgt hat, ist ein bekanntes Beispiel.

Wer die 500 Millionen EU-Bürger für Europa interessieren, geschweige denn begeistern will, täte gut daran, ihnen ihren Eigensinn zu lassen. Eine gelungene Identität ist eben auch eine, auf die man sich ein Stück weit etwas einbilden kann.