#auchich – mein Beitrag zu 30 Jahre Mauerfall

Der Beitrag lief am 2. Oktober im Deutschlandfunk Kultur. Mich erreichten danach einige rührende Dankesschreiben aus dem Osten. Daher gibt’s ihn hier nochmal nachzulesen:

Warum ich an der Wut in Ostdeutschland schuld bin

Ein Geständnis von Matthias Gronemeyer

Ich erinnere mich: Es war ein nasskalter Vorfrühlingstag 1990 in Hamburg. Die Mauer war vor ein paar Monaten gefallen und nachdem sich die DDR-Bürger inzwischen reichlich mit Kaffee, Schokolade und Zigaretten (die damals bezeichnenderweise WEST hießen) eingedeckt hatten, kauften sie nun: Autos.Die Hamburger Gerbauchtwagenmärkte zogen Scharen von Schwerin bis Rostock an und auch ich witterte die Chance, meine leere Studentenkasse aufzufüllen.

Schrott zum Höchstpreis

Ich besaß einen alten VW Polo, der an allen Ecken und Kanten rostete, ausgeschlagene Antriebswellen und eine undichte Heckklappe besaß. Wenn man die Fahrertür zu heftig zuschlug, musste man befürchten, dass sie abfiel. Diesen Schrott setzte ich für 1.200 D-Mark in die Zeitung.

Ich konnte mein Glück kaum fassen, als sich zwei 17-jährige Jungs aus dem Osten meldeten, die zwar noch keinen Führerschein, aber offenbar reichlich Erspartes besaßen. Sie waren meine Beute. Ich fuhr mit ihnen ein paar Runden durch die Stadt, hatte dabei das Radio laut aufgedreht, um die ratternden Antriebswellen zu übertönen und quatschte ihnen die Ohren voll, um sie von den offensichtlichen Mängeln meiner Karre abzulenken.

Was soll falsch sein am „Abzockversuch“?

Es muss aber wohl irgendein Gott der Gerechtigkeit gewesen sein, der es seit Tagen hatte regnen lassen, so dass auch diesen beiden jungen Männern nicht entging, wie das Wasser durch den Rost in den Kofferraum troff. Das Geschäft kam nicht zustande und ich verfluchte den Regengott.

Nicht eine Minute indes hatte ich darüber nachgedacht, mein Abzockversuch könne irgendwie unrecht, wenigstens aber unanständig sein. Was sollte auch daran falsch sein, schlau, gewieft und gewitzt zu sein?

Der Erfolg der Populisten

Ich gebe es zu, ich hatte dieses Ereignis fast 30 Jahre lang verdrängt und ich habe auch nur allzu gerne die üblichen Erklärungen geglaubt, warum sich viele im Osten schwer damit tun, genauso zu sein wie wir im Westen. Dass so viele, wie zuletzt in Sachsen und Brandenburg, eine nationalistische bis rechtsradikale Partei wählen, liegt aber weder daran, dass man östlich der Elbe eben traditionell braun ist, noch daran, dass in den Krippen alle kollektiv aufs Töpfchen mussten.

Sondern es liegt an Leuten wie mir. Leuten wie mir, die dreißig Jahre lang geschwiegen haben.

Eine traumatisierte Generation

Wir wissen, wie die Abwicklung der DDR eine ganze Generation traumatisiert hat und wir wissen, dass sich dieses Trauma auf die nachfolgenden Generationen überträgt. Der Jahresbericht zur Deutschen Einheit hat es gerade wieder bestätigt.

Dennoch gehen viele, die damals daran verdient haben, damit um wie die katholische Kirche mit dem sexuellen Missbrauch: Man gibt, auf Druck, zögerlich einzelne Verfehlungen zu – die Sache an sich wird aber nicht infrage gestellt.

Sind die Opfer nicht selbst schuld?

Das ist ein bekanntes Muster. Wenn es darum geht, Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten, schallt es aus jedem Mund: Ich doch nicht! Und überhaupt: Sind die Opfer nicht selbst schuld, wenn sie so dumm waren?

Wir sind Antworten schuldig. 30 Jahre nach dem Mauerfall wird es daher Zeit zu sagen: Auch ich! Auch ich habe versucht, die Ostdeutschen abzuzocken. Und so sollte sich jeder fragen, ob nicht auch er Anlass hat zu sagen: Auch ich.

Ich weiß nicht, was aus den beiden Jungs von damals geworden ist. Ob ein anderer sie über den Tisch gezogen hat oder ob es für sie gut ausgegangen ist. Sie sollen aber wissen: Mein Tun vor 30 Jahren tut mir leid.