Finanzkrise: Die Philosophie hilft

Banken fallen in letzter Zeit in sich zusammen wie Kartenhäuser, Finanzpolitiker retten ein paar durch milliardenschwere Hilfen; es scheint eine Schlacht der Experten gegen eine ebenso unverständliche wie bedrohliche Krise zu sein. Der Bürger steht passiv am Rand und staunt. Wenn man gedanklich einen Schritt zurück tritt, wird indes der Zusammenhang zwischen persönlichem Verhalten, also dem, was die Ethik lehrt, und den ökonomischen Verwerfungen deutlich.

Als Medikament gegen politische und wirtschaftliche Verwerfungen verordnete der antike Philosoph Platon den verschiedenen Ständen im Staat verschiedene Tugenden: Den Regierenden Weisheit, dem Militär Tapferkeit – und dem Rest Mäßigung. Hinter letzterem stand der Generalverdacht, dass der Mensch – mit wenigen Ausnahmen – seine Gier nicht im Griff habe; sei er nun Banker, Unternehmer oder Sozialhilfeempfänger (alle drei waren dem antiken Athen bekannt). Damit einher ging ein tiefes Misstrauen gegenüber den Kräften des freien Marktes, so dass Platon der Wirtschaft in seinem idealen Staat zugleich ein strenges Korsett anlegen wollte, das der sozialistischen Planwirtschaft nicht unähnlich war. Platons Staat blieb indes immer ein Konjunktiv, das Konzept musste sich nie in der Praxis bewähren und hätte es vermutlich auch nicht getan. Nichts nämlich ist unpopulärer, als den unteren und mittleren sozialen Schichten Mäßigung zu verordnen. Kein Politiker, der seine Legitimation aus Volkes Stimme bezieht, kann diese Tatsache ignorieren.

Die Gier der vermeintlich Oberen, der Investmentbanker und Topmanager angesichts der gegenwärtigen Finanzkrise zu geißeln, ist aber ebenso wohlfeil wie heuchlerisch. Dass einige Geldhäuser hierzulande, und einige mehr jenseits des Atlantiks, Bankrott gemacht haben, ist nicht mehr als ein Kollateralschaden – wenngleich ein gravierender – der Gier des Kleinen Mannes. Wenn dieser sich nun lauthals darüber beschwert, dass der Staat mit Steuermilliarden das Versagen überbezahlter Manager deckt, dann sollte er in den Spiegel schauen und sich fragen, wie er es selbst denn mit Milliardengeschenken in Form von Pendlerpauschale, Eigenheimzulage oder längst nicht mehr durch Beiträge gedeckte Renten hält. Kleinvieh macht eben auch Mist.

Die Volkswirtin Karen Horn forderte kürzlich im Deutschland Radio Kultur, die schädlichen staatlichen Manipulationen des Marktgeschehens zu verhindern und den Bürger vor der „Nonchalance der (politischen) Verführer“ zu schützen, die immer umverteilen wollen. Das ist ein ur-liberales Ansinnen, angesichts der wahren gesellschaftlichen Verhältnisse aber utopisch, weil es allenfalls bei zehn Prozent der Wähler Zustimmung finden würde. Staat und Markt gegeneinander auszuspielen, kann also nicht die Lösung sein. Vielmehr muss der Einzelne begreifen, dass von Beiden, vom Kapitalismus wie von der Wirtschafts- und Sozialpolitik, sowohl Nutzen als auch Schaden zu erwarten sind. Und dass es an ihm selbst liegt, wie er damit umgeht. Und hier können wir von Aristoteles, dem Schüler Platons, lernen.

Aristoteles (384-322 v. Chr.) lebte zu einer Zeit, in der die politische Führung durch Parteikämpfe und die Versorgungsinteressen der Wähler in Starre verfallen war. Obwohl es übel um die öffentlichen Finanzen stand, wagte sich niemand an Reformen heran. Was heute aus der Unberechenbarkeit der Märkte resultiert, war zu Aristoteles’ Zeiten durch permanente kriegerische Auseinandersetzungen gegeben. So wie sich gegenwärtig die Politik ziemlich hilflos gegenüber dem Markt zeigt, und nur hinterher ein wenig die Scherben zusammenkehren kann, war sie damals unfähig, die unterschiedlichen Interessen der griechischen Staaten unter einen Hut zu bringen. In der Folge blieb der Einzelne bei der Aufgabe, aus seinem Leben ein gelungenes Leben zu machen, auf sich gestellt. Gefordert war also Lebenstüchtigkeit. Das Wort Tüchtigkeit ist im Deutschen eng mit dem Wort Tugend verwandt, und Aristoteles schrieb, dass Tugend „ein Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit“ sei. Wie aber erlangen wir diese Tüchtigkeit? Der Philosoph liefert die Antwort gleich mit: durch fortwährende Übung, die in uns feste Grundhaltungen erwachsen lässt. Bleibt die Frage, was und wie zu üben sei.

Aristoteles sucht in seinen Schriften Politik und Nikomachische Ethik nach einer Konzeption des guten Lebens, das für alle erreichbar ist und sich in möglichst allen Staaten verwirklichen lässt. Angesichts der Unwägbarkeiten, mit denen sich das antike Leben konfrontiert sah, war eine gewisse Autarkie, also Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, des Einzelnen eine der Säulen des gelingenden Lebens. Im Hinblick auf die Tugenden, befand der Lehrer Alexanders des Großen, sei nun das Mittlere das beste und „so muss das mittlere Leben das beste sein, wobei jeder die Mitte erreichen kann“. Grenzenlose Profitgier macht eben genauso wenig glücklich wie grenzenlose Armut. In meinem Buch Profitstreben als Tugend? habe ich versucht zu formulieren, was Autarkie und die rechte Mitte für uns heute bedeuten. Danach ergeben sich acht Kriterien für Haltung und Verhalten einer weitgehend krisenfesten globalen Mittelschicht:

Der in Aristoteles’ Sinne lebenstüchtige Bürger ist erstens selbständig in der Organisation seiner Lebensverhältnisse und im Erwerb der für ein angemessenes Leben nötigen Güter. Er anerkennt zweitens die Gültigkeit des Leistungsprinzips hinsichtlich des Erwerbens, also des Arbeitens und Herstellens und sieht seine Versorgung nicht als Aufgabe des Staates. Er bedarf dafür aber realistischer Chancen, d.h. unverschuldete Nachteile sind ggf. durch die Gemeinschaft zu kompensieren (Stichwort Bildungsgerechtigkeit). Er weiß sich drittens zu bescheiden und mit den natürlichen Ressourcen verantwortungsvoll umzugehen. Sollten Glück oder Geschick ihm mehr als das Nötige beschert haben, bekennt er sich viertens zur Freigebigkeit und hilft denen, die sich in einer mangelhaften Lage befinden. Ihm ist fünftens der Wert der Bildung bewusst, sowohl hinsichtlich seiner Arbeit als Grundlage seines Einkommens, als auch in seiner Rolle als Staatsbürger, damit er sechstens aktiv an den politischen Prozessen partizipieren kann. Er weiß siebtens um die Chancen globaler Vernetzung, sieht aber zugleich die Gefahren, die sich aus einer pluralistischen Beliebigkeit ergeben. Daher setzt er sich achtens für den Zusammenhalt seiner Gesellschaft ein und bekennt sich zu seiner Verantwortung in dem Rahmen, der ihm zum Handeln zur Verfügung steht.

„Glücklich ist, wer im Sinne vollendeter Trefflichkeit tätig und dazu hinreichend mit äußeren Gütern ausgestattet ist“, schrieb Aristoteles – in dieser Reihenfolge: Erst die Güter der Seele, dann die materiellen. Denn so, wie „der tüchtige Schuster […] aus dem Leder, das er zur Hand hat, das schönste Schuhwerk [fertigt]“, so gestaltet „der tüchtige und besonnene Mann […] aus dem jeweils Gegebenen das denkbar Beste“. Man wird vielleicht einmal knapp bei Kasse sein, man wird unter Umständen sogar einmal Schulden machen müssen, aber der Mensch, der „jedwede Wendung des Lebens in vornehmer Haltung trägt“, so lehrt uns der Philosoph, kann „niemals ins Elend kommen“. Wer auf staatliche Intervention wartet ist davor indessen nicht gefeit.

Wenn also angesichts der Krise eine Aufgabe an den Staat heranzutragen ist, dann die, seiner pädagogischen Verantwortung derart gerecht zu werden, dass er Menschen zu Bürgern bildet, die mit den Unwägbarkeiten des Lebens zurande kommen. Aber auch da muss man skeptisch sein, weil die Regierenden Bildungspolitik allzu gerne als Ordnungspolitik missverstehen. Wenn es stimmen sollte, wie der Soziologe Ulrich Beck in seinem neusten Buch behauptet, dass wir in einer „Weltkrisengesellschaft“ leben, dann liegt die Lösung eben nicht, wie Beck meint, in noch ausgefeilteren staatlichen Kontrollinstanzen, sondern, ganz aristotelisch, in uns selbst.