Verscherbelte Moral

Wie sich soziales Handeln der Wirtschaft vor die Füße wirft

Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Spiegelkabinett. Wenn es gut gemacht ist, wird es Ihnen schwerfallen, die Realität von der Spiegelung zu unterscheiden. Sie laufen gegen Wände, die Sie für Türen halten und weichen Menschen aus, die nichts als Bilder sind. So sehen wir überall Spiegelungen des Ökonomischen. Wir nennen soziales Handeln Arbeit, weil es so aussieht und merken dabei nicht, wie wir jene Sphären preisgeben, die lange Zeit dem Tauschhandel verschlossen waren: Die Erziehung, die Freundschaft, Liebe, die Pflege. Es ist Zeit, um es mit dem französischen Philosophen Jean Baudrillard auszudrücken, den Spiegel zu zerbrechen.

Wir können seit einigen Jahren eine Entwicklung beobachten, die nicht mehr konfrontativ, sondern inklusiv daherkommt: Sie will das Humane mit dem Ökonomischen vereinen. Dass wir in Tauschhandlungen nicht nur ökonomisch-rational sondern auch sozial und auf Fairness bedacht handeln, versuchte als einer der ersten der deutsche Ökonom Werner Güth in seinem berühmt gewordenen Ultimatumspiel nachzuweisen: Einer Testperson wird ein bestimmter Betrag, sagen wir 100 Euro, gegeben. Sie soll einer zweiten Testperson davon etwas abgeben. Stimmt diese zweite Person der vorgeschlagenen Teilung zu, dürfen beide den jeweiligen Betrag behalten. Lehnt sie ab, bekommt keiner etwas. Das Spiel kann nicht wiederholt werden. In vielen Versuchen rund um die Welt hat man nun festgestellt, dass die zweite Person nur dann zustimmt, wenn sie die Teilung als fair empfindet und eher mit nichts in der Tasche nach Hause geht als mit einem als zu gering empfundenen Betrag. Dieses Verhalten ist mit dem auf Nutzenmaximierung bedachten homo oeconomicus nicht zu erklären, weil auch wenig immer noch mehr ist als nichts. Er hätte also in jedem Falle zugreifen müssen.

Wenn nur noch über beliebige Tauschhandlungen geredet wird, wie im Ultimatum-Spiel, wo das Geld wie Manna vom Himmel fällt, dann fällt der nächste Schritt nicht schwer, nämlich umgekehrt jeden Tausch zu ökonomisieren, was dann im Extremfall, wie bei der Basler Philosophin Angelika Krebs, in die Frage mündet, ob Liebe nicht auch Arbeit sei. Krebs bejaht dies und fordert demgemäß eine angemessene Entlohnung für treusorgende Ehefrauen – nicht im Sinne der ehelichen Zugewinngemeinschaft, sondern als wirkliches Gehalt. Demnächst deklarieren wir den Schlaf in Regenerationsarbeit um und lassen ihn uns bezahlen.

Die zu beobachtende Entgrenzung vollzieht sich also in zwei Richtungen: Zum einen findet eine Humanisierung des Ökonomischen statt, zum anderen eine Ökonomisierung des Humanen.

Der Forderung nach einer Humanisierung der Ökonomie wohnt dabei eine besondere – man könnte fast sagen: perfide – Dialektik inne. In dem Moment nämlich, wo wir es in an sich streng rationalen ökonomischen Prozessen menscheln lassen, wird die Humanität selbst zur Ware. Im Begriff des homo oeconomicus humanus, wie ihn der ZEIT-Redakteur Uwe-Jean Heuser in seinem Buch Humanomics gebraucht, wird diese Dialektik besonders deutlich: Der Mensch muss extra als menschlich gekennzeichnet werden, weil ihm das Wissen um sich selbst offenbar abhanden gekommen ist.

Wir sehen im Wirtschaftsbetrieb gierige Menschen (wo auch sonst?), wir sehen allerlei soziale Verwerfungen (oder reden sie uns herbei), und wollen das wilde Tier Ökonomie daher zähmen. “Die Wirtschaft” (gemeint sind private Unternehmen) verwandelt dieses an sich völlig unökonomische Ansinnen kurzerhand in ein marktfähiges Gut, das uns im Rahmen sogenannter Corporate Social Responsibility-Programme verkauft wird. Anstatt unseren wirtschaftlichen Aktivitäten einen klar abgesteckten Rahmen zuzuweisen, verscherbeln wir unser höchstes Gut: die Moral.

Um zu verstehen, woher dieser Irrtum rührt, lohnt eine erneute Versicherung, was Ökonomie eigentlich ist. Sie ist die Lehre vom Haushalten, sie dient dazu, in einer endlichen Welt mit begrenzten Ressourcen leben zu können. Die Ökonomie lehrt uns, mit der Knappheit zu leben; sie darf nicht missverstanden werden als Mittel zur Überwindung der Knappheit. Wohin der Versuch, die Knappheit aus der Welt zu schaffen, führt, hat uns erst jüngst die Finanzkrise gezeigt. Das Ansinnen, die Endlichkeit überwinden zu wollen, also etwas zu tun, was dem Menschen nicht zusteht, nannten die alten Griechen Hybris – zu deutsch: Anmaßung. Wer der Hybris verfiel, zog den Zorn der Götter auf sich.

Wenn wir das Humane als dasjenige verstehen, was uns jenseits der bloßen Existenzsicherung, auch jenseits der bloß materiellen Verbesserung unserer Lebensverhältnisse erst zu Menschen macht, also unsere Moralität und unsere Fähigkeit, unser Zusammenleben als soziale Wesen selbstbestimmt zu organisieren, dann liegt nicht nur der Humanisierung des Ökonomischen ein Denkfehler zugrunde, sondern in gleichem Maße auch der Ökonomisierung des Humanen.

Soziales Handeln wird erst dadurch ermöglicht, dass anderswo die dafür nötigen Mittel erwirtschaftet werden. Kinder zu erziehen, alte Menschen zu pflegen ist ökonomisch unproduktiv und bleibt per Saldo defizitär. Wer erzieht, pflegt oder einfach hilft, tauscht sein Tun gegen – nichts. Zumindest im ökonomischen Sinne. Nach Immanuel Kant zählt für die moralische Bewertung einer Handlung allein der gute Wille, und dabei kommen nur Handlungen in Betracht, die explizit nicht auf einen Tausch abzielen. Einem Bettler Almosen zu geben, damit man in der Gesellschaft der Bessergestellten gut dasteht, ist zwar nicht verwerflich (denn dem Bettler wird ja geholfen, und ihm mag die Motivation des Gebers egal sein), aber es ist eben nicht moralisch. So geht es beim sozialen Handeln auch um mehr als die Erwartung, einmal eine soziale Gegenleistung zu erhalten. In ihm drückt sich die ganze menschliche Freiheit aus. Nicht Freiheit im negativen Sinn, also als bloße Abwesenheit von Zwang, sondern im positiven Sinn, als die Freiheit zur lebendigen Tat. Der Aspekt der Freiheit ist hier besonders wichtig – wir helfen weder aus einem Kosten-Nutzen-Kalkül, noch werden wir von einem Fürsorge-Gen gesteuert.

Natürlich muss man auch im Sozialen mit seinen Kräften haushalten, doch die Ökonomisierung des Humanen hat Grenzen: Wer Essen auf Rädern ausfährt, wird den kürzestmöglichen Weg nehmen, eine Heimleitung sollte auch auf den Energieverbrauch ihrer Einrichtung achten – aber damit hat es sich in der Regel auch schon. Denn weder können Erzieherinnen ihre Kindergartenkinder im Akkord betreuen, noch kann man Pflegebedürftige nach Rumänien exportieren, weil dort die Gehälter niedriger sind, oder Streetworker durch Maschinen ersetzen. Was also bleibt, ist die Übernahme von Metaphorik und Semiotik des Ökonomischen in das soziale Handeln.

Dieses Primat des Ökonomischen hält sich bis heute. Die Ökonomie ist zur Leitsphäre, man könnte auch sagen: zum Leitwesen unserer Gesellschaft geworden. Damit einher ging umgekehrt ein dramatischer öffentlicher Statusverlust all derer, die sich nicht mit Profitmaximierung befassen, sondern sich dem Humanen und Sozialen widmen. Ihnen wurde eingeredet, und oft genug redeten sie es sich selbst ein, nicht mehr zeitgemäß zu sein. Im Zuge des Update auf welfare 2.0 fanden dann eine Reihe von Umetikettierungen statt. Es begann mit der Schöpfung des Begriffs „Soziale Arbeit“ (etwa Anfang der achtziger Jahre), führte zu Studiengängen wie „Pflegemanagement“ und zu Geschäftsführern und Aufsichtsräten in Altenheimen und ist bei der Umbenennung von Gemeindehelfern zu „Case Managern“ noch nicht ans Ende gekommen. Religion wurde mancherorten durch McKinsey ersetzt. Man könnte diese Begriffshuberei, dieses Neusprech mit einem Achselzucken abtun, alldieweil sich die dahinterstehenden Tätigkeiten ja kaum geändert haben. Aber so einfach ist es nicht.

Wer als Unternehmer Arbeitskräfte einkauft, tut dies mit einem einzigen Ziel: Ihre Arbeit soll sein Kapital vermehren. Und sonst nichts. Man kann der Arbeit nun noch eine Reihe weiterer Attribute anheften, dass Arbeit zu haben z.B. Grundlage sozialer Anerkennung sei, der Mensch in der Arbeit überhaupt zu sich selbst finde (Hegel), Arbeit ein Hort zur Entwicklung individueller Fähigkeiten sei und auf aufmüpfige Jugendliche gesellschaftlich integrierend wirke. Gerade der Anerkennungsaspekt wird immer wieder angeführt, insbesondere von denen, die ein Recht auf Arbeit fordern (damit aber eigentlich ein Recht auf Entlohnung, sprich: bedingungsloses Grundeinkommen meinen). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt, wer den Begriff der Arbeit etymologisch auf seine Wurzeln „Armut“ und „Mühsal“ zurückführt. Dann ist jede anstrengende Tätigkeit Arbeit.

Wer Arbeit und insbesondere ein Recht auf entlohnte Arbeit aber aus ihrer sozialen oder psychischen Funktion heraus erklärt, begeht einen soziologischen Fehlschluss: Das, was Arbeit im Kern ist, das was geschieht, wenn jemand arbeitet, nämlich das Erwirtschaften von Mitteln zum Lebensunterhalt, unterliegt keinem sozialen oder historischen Wandel. Dass dieses Erwirtschaften durch die Zeiten hindurch ein äußerst mühsames Geschäft gewesen ist (und in vielen Teilen der Welt heute noch ist), so dass Arbeit und Mühsal begrifflich verschmolzen, ändert nichts daran, dass man nicht für seine Mühen entlohnt wird, sondern für seine Fertigkeit, der Natur einen Lebensunterhalt abzuringen. Sisyphos arbeitet nicht.

Soziales Handeln und ökonomische Arbeit haben gemeinsam, dass es sich bei beiden um ein zielgerichtetes, reflektiertes Tätigsein handelt, das Bedürfnisse befriedigt. Allerdings ist ökonomische Arbeit – und das ist der fundamentale Unterschied – primär darauf ausgerichtet, die je eigenen Bedürfnisse des Arbeitenden zu befriedigen, während soziale Arbeit die Bedürfnisse eines anderen befriedigt. Selbst die sehr virtuelle Arbeit eines Börsenmaklers läuft am Ende darauf hinaus, dass jemand einer Kuh die Haut abzieht, um daraus Schuhe zu fertigen. Diesen Zusammenhang gibt es bei sozialer Arbeit nicht. Der Ethik-Unterricht, den ich erteile, lässt sich ebensowenig auf irgendeine Art primären Wirtschaftens zurückführen, wie das Pflegen eines alten Menschen.

Wenn man nun bei Tätigkeiten, die im ökonomischen Sinne keine Arbeit sind, mit Begriffen aus der Ökonomie hantiert, hat das zur Folge, dass sich – betriebswirtschaftlich gesprochen – auch die andere Seite der Bilanz ändert. Was vordem Ausdruck von Humanität war, von positiver menschlicher Freiheit mithin, wird im Zuge der Umetikettierung dem kalten ökonomischen Kalkül unterworfen. Wer Alte und Kranke pflegt, wird nun nicht mehr ob seines Engagements gelobt, sondern muss sich als „Care Manager“ peinliche Fragen zu seinen Quartalsberichten gefallen lassen. Und hat dann weder Zeit noch Kraft, sich dem Naheliegenden zu widmen. Weil das Soziale von seinem Wesen her nun aber gar nicht ökonomisch sein kann, muss es, um auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten bestehen zu können, sich der ökonomischen Metaphorik bedienen.

Nicht nur sprachanalytisch, auch wissenschaftstheoretisch lässt sich der Irrtum nachweisen. Wer versucht, soziales Handeln mit ökonomischen Begriffen einzufangen – und damit komme ich auf das Ultimatumspiel und ähnliche Ansätze der Verhaltensökonomie zurück –, begeht einen Kategorienfehler. Die Ökonomie als Wissenschaft ist nämlich, wie alle Wissenschaften, dem Diktum des Determinismus unterworfen, das heißt, ihre Theoreme müssen der Kausalität, der notwendigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung folgen. Auch die „neuen“ Ökonomen gehen nach wie vor von einer deterministischen Gesellschaft aus und versuchen, sie mit deterministischen Mitteln zu analysieren. In dem Moment aber, wo sie die eigentliche Sphäre des Ökonomischen, dieses Reichs der Notwendigkeit (Marx) verlassen, beginnen sie, mit dem Instrumentarium des Determinismus an der Freiheit herumzudoktern.

Nirgends aber, das hat uns Kant gezeigt, drückt sich menschliche Freiheit so sehr aus, wie in unserer Fähigkeit zu moralischem Handeln. Die Verhaltensökonomie degradiert unsere Moralität hingegen zu einer evolutorischen Funktion.

Anstatt der Ökonomisierung des Humanen nun also eine Humanisierung des Ökonomischen folgen zu lassen und damit die Entgrenzung von der anderen Seite her zu betreiben, plädiere ich dafür, dem Wirtschaften seinen Platz zuzuweisen, es einzugrenzen und abzusondern. Wenn nämlich alles Ökonomie ist, dann drohen wir, einem „katastrophalen Nihilismus“ (Baudrillard) zu verfallen.

Die Wirtschaft hat ihren Ort im Vor-Politischen, man könnte auch sagen: im Vor-Sozialen. Für Aristoteles, der im vierten Jahrhundert vor Christus als erster die Wirtschaft systematisch untersuchte, ist sie der Bereich der reinen Transaktionsgerechtigkeit. Es komme nicht darauf an, ob der Gute dem Schlechten etwas schulde oder der Schlechte dem Guten, sondern nur, dass die Rechnung vertragsgemäß beglichen wird. Bedürftigen zu helfen oder Ideen von Gleichheit zu verwirklichen, ist einer anderen Sphäre von Gerechtigkeit zugeordnet. Ökonomische Transaktionen zu moralischen Zwecken zu instrumentalisieren, hieße daher, die Grenze zwischen den Sphären zu verletzen. Die Wirtschaft kann aber nur dann die dienende Funktion übernehmen, die Aristoteles ihr gegenüber dem Sozialen zuweist, wenn sie sich auf ihr Kerngeschäft konzentriert: Profitmaximierung.

Gegen den soziologischen Fehlschluss, der fordert, man müsse die Ökonomie neu definieren, weil sich die Menschen unökonomisch verhielten und dabei dem Profitstreben auch noch den letzten Rest Humanität anverwandelt, plädiere ich für eine normative Wendung: Sei ökonomisch im Bereich der Wirtschaft, d.h. auf Nutzenmaximierung bedacht, sei sozial im Sozialen, d.h. auf Solidarität und Selbstlosigkeit bedacht. Oder um es mit Aristoteles auszudrücken: Wir erwirtschaften Eigentum, damit Freigebigkeit möglich wird. Entgegen den Inklusions- und Entgrenzungstendenzen sollten wir das Soziale, das Humane gegen das Ökonomische verteidigen! Dem homo oeconomicus seinen Ort zuweisen: Dort wirtschafte!

Soziales Handeln verfolgt in letzter Konsequenz immer moralische Ziele, selbst dann, wenn sich die Moralität hilfsweise eines Tauschgeschäfts bedient, indem sie Menschen für ihr soziales Handeln entlohnt. Moralische Güter können aber keinen Preis haben und somit auch keinen Markt, das widerspräche ihrer Natur. Ein Wirtschaftsunternehmen weckt bei seinen Kunden Bedürfnisse, um seine Waren gewinnträchtig verkaufen zu können. Ein nach der gleichen Logik geführtes Krankenhaus müsste für möglichst viel Krankheit in der Bevölkerung sorgen, was offenkundig in ein Paradox mündet.

Man sollte also nicht von freier Wirtschaft einerseits und Wohlfahrtsökonomie andererseits sprechen, sondern von gesellschaftlichen Sphären: Es gibt jene, in der man für sich selbst sorgt, und jene, in der man für andere sorgt. Ein vollständiges Mitglied der Gesellschaft ist man erst, wenn man in beiden Sphären seine Leistung erbringt.

Fassen wir noch einmal zusammen: Die Endlichkeit der Welt erzwingt die Ökonomie. Die Endlichkeit unseres Lebens macht uns erst zu den sozialen, auch: moralischen Wesen, die wir sein können, wenn wir es nur genug wollen.

Ich möchte keine Welt, in der ich fürs Schlafen bezahlt werde, ich möchte auch keine Welt, in der ich fürs Lieben bezahlt werde. Ich möchte nicht einmal eine Welt, in der ich fürs Helfen bezahlt werde. Denn in einer solchen Welt könnte ich nicht mehr helfen, nicht mehr lieben und auch nicht mehr schlafen.