Muster der Macht: Vom Webstuhl zum digitalen Code

Noch bis zum 7. September läuft die Ausstellung „Muster der Macht“ in der Galerie Oberwelt. Ich bin mit meinem philosophischen Objekt WEBSTOOL vertreten.

Jacquard-Mechanik

WEBSTOOL

Eine kurze Geschichte der Digitalisierung

Die Digitalisierung ist im Prinzip so alt wie die Menschheit selbst. Als uns bis auf einen kleinen Rest die Haare ausfielen und wir uns Kleider machen mussten, als wir Wolle zu Fäden sponnen und daraus Stoffe webten, wurde damit zugleich auch der binäre Code erfunden. Denn der Webrahmen kennt nur diese zwei Zustände: Entweder, der Kettfaden ist oben und bleibt so im Stoff sichtbar, oder er ist unten und der Schussfaden wird sichtbar. Wir kleiden uns seit jeher in Null und Eins. Noch vor Erfindung der Schrift taugten kleine Webstücke als Speichermedien; eingewebte Muster erinnerten an einen Ort oder ein Ereignis.

Über Jahrtausende wurde von Hand gewebt, bis im 18. Jahrhundert mit der Dampfkraft die Industrialisierung einsetzte und die mechanischen Webstühle in den riesigen Fabrikhallen die Heimweber um ihre Arbeit brachten und ins Elend stürzten. Ohne die Industrialisierung der Stoffherstellung hätte es vermutlich keine Arbeiterbewegung gegeben, keinen Kommunismus, Marxismus, Bolschewismus, Nazismus. Die größten Machtkämpfe der letzten zweihundert Jahre gehen am Ende auf den Stoff aus Nullen und Einsen zurück.

1805 ließ sich der Franzose Joseph-Marie Jacquard dann eine Webtstuhlsteuerung mit Lochkarten patentieren. Voilà, die Erfindung der durch Code auf einem Speichermedium vollautomatisch gesteuerten Maschine! Es konnten nun im Prinzip endlose Muster gewebt werden und jedes Muster endlos wiederholt werden. Das binäre System der Weberei hatte die Auflösung von Bildern in Bildpunkte ja bereits vorgegeben, jetzt ließ es sich im großen Stil umsetzen: Die erste Fototapete war ein Wandteppich. Interessant ist, dass die Digitalisierung der Weberei vor allem kitschige „realistische“ Motive hervorbrachte – so wie in unserer Zeit die digitale Fotografie und Programme wie Photoshop.

Kinder-Webstuhl mit selbstgebauter Mechanik.

Die Lochkarte als maschinenlesbares Speichermedium fand dann bald Eingang in die Datenverarbeitung und Informatik. Die ersten digitalen Rechenmaschinen und Computer, wie zum Beispiel der berühmte Zuse Z1 wurden mit Lochkarten gesteuert. Ab den 1960er Jahren setzten sich dann Magnetbänder durch und der Bezug der Digitalisierung zur Weberei verlor ein Stück seiner Anschaulichkeit.

Ich habe für den WEBSTOOL eine kleine Jacquard-Mechanik nachgebaut, die Programmcode von einem 8-Bit-Lochstreifen in gewebtem Textil sichtbar macht. 8-Bit-Code wird zum Beispiel von den auch bei Künstlern sehr beliebten Arduinos verwendet. Im Prinzip macht ein Prozessor nichts anderes, als die codierten Werte solange in seinen achtstelligen Registern hin- und herzuschieben, bis das Programm abgelaufen ist und ein Resultat ausgibt. So lassen sich Lichtquellen oder Motoren steuern, aber auch Töne erzeugen.

Die „Mechanik“ hat sich bis heute nicht geändert. Moderne Prozessoren haben allerdings 64-stellige Register, die sie im Gigahertz-Takt bedienen, und sind winziger als ein Fingernagel. Miniaturiserung und unvorstellbare Geschwindigkeit machen die Abläufe allerdings nahezu unsichtbar. Die Vernetzung der Geräte macht zudem eine direkte Verbindung von Speichermedium, Prozessor und Ausgabe nicht mehr nötig. So als wäre der Lochstreifen des WEBSTOOLs in Kalifornien, die Nadeln und Platinen in Frankfurt und die Litzen, die die Kettfäden ausheben, hunderte Kilometer lang.

Wer im 19. Jahrhundert in den Textilfabriken durch Unachtsamkeit in die gewaltige Mechanik der Webmaschinen geriet, bezahlte das nicht selten mit abgetrennten Gliedmaßen oder gar dem ganzen Leben. Das Netz, das die Algorithmen heutzutage weben, ist so fein, dass wir unsere Verstrickungen darin oft gar nicht bemerken.

Vom Code zurück zum Textil

Inzwischen sind Code und Muster so weit ineinander übergegangen, dass die Maschine Muster (zum Beispiel Gesichter) erkennt und als Code ausgibt. Man könnte von einer Konvergenz von Text und Textil sprechen.

Das Projekt WEBSTOOL holt den Code und seine Verarbeitung aus der Unsichtbarkeit zurück. Wer ein Stück gewebten Code trägt, zeigt damit, den Prozess der Digitalisierung verstanden zu haben.