Mit Hegel ins 21. Jahrhundert: Beständiger Wandel

„Das Ganze ist ein ruhiges Gleichgewicht aller Teile und jeder Teil ein einheimischer Geist, der seine Befriedigung nicht jenseits seiner sucht, sondern sie in sich darum hat, weil er selbst in diesem Gleichgewichte mit dem Ganzen ist.“ So schrieb es Anfang des 19. Jahrhunderts Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der gerne als der deutsche Staatsphilosoph bezeichnet wird. Es klingt, als hätte er damit das Sehnsuchtsmotiv eben jener einheimischen Geister formuliert, für die das ungestörte Dasein in der bürgerlichen Gesellschaft das Maß aller Dinge ist. Ruhe, Frieden und Gleichgewicht in der Heimat, das scheint derzeit das zu sein, was eine Mehrheit bedroht sieht und was sie von der Politik geschützt wissen will. Was hier in einem Satz beschrieben wird, ist aber, wenn man so will, nur der halbe Hegel. Wer hier zu lesen aufhört, meint dasjenige bestätigt zu finden, was er in seinem kleinbürgerlichen Geist, in seinem Kleingeist schon immer für richtig erachtet hat. In seinem epochalen Werk von der Phänomenologie des Geistes zeigt uns der Denker aber, dass in der Ruhe kein Bestehen zu finden ist, dass vielmehr alles erst durch seine fortwährende Negation seine Bestätigung erfährt. Das eingangs zitierte Gleichgewicht könne sich nämlich nur dadurch lebendig erhalten, heißt es gleich im folgenden Satz, indem Ungleichheit in ihm entstünde. Und damit meint Hegel weit mehr als bloß ein bisschen Arm und Reich. Um ein Gemeinwesen mit seinen isolierten Subsystemen zusammenzuhalten, müsse es hin und wieder durch einen Krieg erschüttert werden, der den Individuen, so schreibt er, „in jener auferlegten Arbeit ihren Herrn, den Tod, zu fühlen“ gebe.

Zu jener Zeit siegte sich Napoleon Bonaparte gerade durch Europa und auch wenn die Kriege damals noch nicht die mörderische Massenvernichtung des 20. Jahrhunderts kannten, die rund 35.000 Toten und Verwundeten der Schlachten bei Jena dürften auch dem dort lehrenden Privatdozenten Hegel nicht verborgen geblieben sein. „Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat“, stellt er lapidar fest, könne „wohl als Person anerkannt werden“; es habe aber „die Wahrheit dieses Anerkanntseins als eines selbständigen Selbstbewußtseins nicht erreicht.“

Angesichts der Millionen Kriegstoten und der Völkermorde seitdem verbietet sich Hegels Schlachtfeld-Optimismus – der dahinterstehende Gedanke einer fortwährenden Unruhe als Prinzip jeglicher Existenz, ob individuell oder gesellschaftlich, bleibt dennoch richtig. Die Zerrissenheit Europas, seine gegenwärtige Erschütterung, die allenthalben von den Kommentatoren wie ein Menetekel an die Wand gemalt wird, stellt insofern gerade nicht das drohende Ende des Gemeinwesens dar, sondern seinen immer wieder in Angriff zu nehmenden Anfang. Der inzwischen geflügelte Merkel-Satz vom „Wir schaffen das“ hätte im Sinne der Hegelschen Dialektik gerade dann seine Wahrheit bewiesen, wenn er sich als falsch herausstellen sollte. Die notwendige Bewegung ist nämlich nur um den Preis des möglichen Scheiterns zu haben – wer bloß am Bestehenden festhält, wird dagegen über kurz oder lang nichts mehr in Händen haben. Man muss den Kleingeistern die Anerkennung daher nicht verweigern – man könnte sie ihnen überhaupt gar nicht gewähren, nicht einmal aus Versehen.

Wer hingegen seine Existenz aufs Spiel gesetzt hat, weiß um die Wahrheit seines Selbstes. Dies wird die neue bindende Kraft sein, nicht mehr die zunehmend verblassende Erinnerung an vergangene Schrecken. Das Gemeinwesen des 21. Jahrhunderts wird eine Gemeinschaft der Wagenden sein.