Leseprobe: Hagrit / Die Unmöglichkeit der Sprache

Aus vögeln – eine Philosophie vom Sex

7 Hagrit

Die Stadt Hagrit zeigte sich wie ein Kind. Wie ein Kind, das, verträumt oder sprunghaft, seine Sachen verstreut herumliegen ließ, ein Schuh, ein Schal, ein Holzpferd hier, eine Plastikpuppe da, ein abgenutztes Stofftier, eine Kiste voller Unvollständigkeiten, so hatte die Stadt Hagrit ihre Sachen um sich in die Gegend verstreut. Wer sich ihr näherte, bemerkte ihre Existenz durch diese Dinge in der Landschaft, Straßenschilder und Werbetafeln, einzelne Häuser, Teile eines Bauernhofes, Bushaltestellen, Schallschutzwände, parkende Autos, wobei die Stadt Hagrit weder zu hören noch zu sehen war. Sie blieb streckenweise eine Vermutung, und während man ihren Andeutungen folgte, beschlich einen zuweilen der Verdacht, sie könnte ihren Ort längst verlassen haben, aus ernsten Gründen vielleicht und ohne Gelegenheit, alles einzupacken. Nach allem, was man über die Stadt Hagrit wusste, hätte sie solche Gründe gehabt, ein Wirtschaftsflüchtling, minderjährig, mit einer Handvoll Habseligkeiten sonder Wert, könnte sie herumziehen auf der Suche nach einer Bleibe, aber wohin sie auch käme, es waren längst andere Habenichtse dort, die ihr den Platz verwehrten. Also war sie in dieser verlassenen Kleingartenkolonie geblieben, auf die sie längs ihrer Irrwege gestoßen war, und hatte dann nach und nach alles herbeigeschleppt, was auf dem Fluss trieb, was die Straßen heranspülten, Schiffe und Fabriken und Eisenbahnen und ganze Wohnblocks und Kaufhäuser mit Sonderangeboten fürs ganze Jahr. Hinter alledem, nach hinten hinaus, in die Richtung, aus der kaum jemand kam, hatte sie sich einen Garten angelegt, mit großen alten Bäumen und Blumenbeeten und Brunnen, den man erst sah, wenn man schon mittendrin stand. Dieser Garten war der Stadt Hagrit etwas unangenehm, fast schämte sie sich seiner, so als dürfe sie, das Flüchtlingskind, nichts Schönes ihr Eigen nennen, aber die Welt war hier einfach zurückgewichen und hatte ihr den Platz absichtslos überlassen. So hatte die Stadt Hagrit ein Geheimnis, wie Kinder ihre Geheimnisse und verborgenen Plätze haben. Der Garten hielt Winterschlaf: die Bäume kahl, die Beete umgegraben, die Stauden zusammengebunden.

Komm herein, sagte das Mädchen zu Abraham, komm herein, im Garten ist es zu kalt. Drinnen ist es warm, du magst es doch warm oder? Sie war vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Abraham folgte ihr. Wie heißt du, fragte sie. Er nannte seinen Namen. A-bra-ham, wiederholte sie, A-bra-ham. Ein komischer Name. Menschen mit komischen Namen sind meistens selbst nicht komisch. Ich heiße Hagrit. Ich verkleide mich gerne, sagte sie, heute bin ich Prinzessin. Eigentlich bin ich immer Prinzessin und noch eigentlicher ist dies gar keine Verkleidung. Ich sage es nur so, weil du kein komischer Mensch bist, Abraham. Sie trug einen rosa Morgenmantel, der ihr viel zu groß war. Spiel mit mir, sagte sie.

Die Stadt war ein großes Spielzimmer. Es gab den Santa-Monica-Platz und die Chattanooga-Straße und an jeder Ecke ein Casino Royal. Man konnte seinen Gewinn gegen Gold eintauschen und sein Gold gegen Geld und andere Versprechungen. Zwischen alledem standen bunt bemalte Elefanten, eine echte Lok und ein Schiff, das man auf Sand gesetzt hatte. Spielautomaten blinkten und klingelten. Es roch nach Hamburgern, Zuckerwatte und billigem Parfüm. Abraham erkundigte sich nach den Elefanten. Ach die, sagte Hagrit, so als spräche sie über schrullige alte Damen, das waren die Erwachsenen. Sie winkte ab. Da gab es nichts zu verstehen. Worum spielen wir?, fragte sie und bot Abraham Schokoladenzigaretten an. Sie hatte irgendwo eine blaue Federboa herausgezogen und sich um den Hals geschlungen. Ich weiß nicht, sagte er. Er hatte noch nie gespielt, nicht um Geld oder sonst einen Einsatz. Er verbuchte das Glück immer gleich als Verlust. Was soll das heißen: Du weißt nicht? Hast du denn kein Fernweh, A-bra-ham? Er wusste nicht einmal das, wusste nicht, ob er Fernweh hatte, ihm waren solche Gefühle fremd. Eine Fremde war so gut oder schlecht wie jede andere. Die Schokoladenzigarette wurde in seiner Hand weich, er legte sie beiseite. Dann schlage ich dir etwas vor, sagte Hagrit, die an ihren Füßen, vom rosa Morgenmantel verdeckt, hochhackige Schuhe trug, wie er jetzt bemerkte; auch sie zu groß, was Hagrit aber nicht daran hinderte, eine tänzerische Drehung zu vollführen. Ich schlage vor, sagte sie, wir spielen um eine Reise nach Arizona. Kennst du Arizona? Er habe davon gehört, sagte Abraham, es solle sehr heiß dort sein. Es ist sehr heiß dort, sagte Hagrit, in Arizona ist nämlich immer Sommer. Da muss man einfach hinwollen. Was ist der Einsatz?, fragte er. Er holte ein paar Münzen aus seiner Hosentasche. Er wollte kein Spielverderber sein. Er steckte die Münzen in einen der Automaten, die Scheiben begannen, sich zu drehen, blieben eine nach der anderen stehen, der Automat machte ein trauriges Geräusch. Kein Gewinn. Nochmal? Abraham ließ die Scheiben drehen, bis die Münzen aufgebraucht waren. Ich habe kein Glück, sagte er. Du hast kein Fernweh, Abraham, sagte Hagrit. Arizona muss warten. Sie gab ihm noch eine Schokoladenzigarette. Hast du Kinder, fragte sie ihn. Abraham zögerte und noch ehe er etwas antworten konnte, sagte Hagrit: Ich habe viele Kinder. Als er in die Stadt gekommen war, waren sie ihm aufgefallen, die vielen Kinder, Erwachsene hatte er nicht gesehen. Jeden Monat, sagte Hagrit, bekomme ich ein neues Kind. Oder alle zwei Monate, wer weiß das schon genau. Sie schenkte sich und Abraham ein Glas mit Limonade ein, selbstgemacht, sagte sie. Ich mache sie mit den Jungen, die Kinder. Ich frage einen Jungen, ob er es mit mir machen möchte, es ist eigentlich keine richtige Frage, denn natürlich möchten sie es machen, aber man muss sie fragen, so ist die Regel. Wenn einer noch nicht weiß, wie es geht, dann zeige ich es ihm. Die Jungen spielen oft auf der Lok oder dem alten Schiff, da habe ich es auch schon mit ihnen gemacht, im Bauch des Schiffes oder im Führerstand der Lok. „Es machen“, sagte Hagrit: Ist das nicht komisch, dass es dafür kein richtiges Wort gibt? Für alles sonst, was wir machen, gibt es ein eigenes Wort, nur für das Kindermachen nicht. Wie sagst du dazu, A-bra-ham? Er sagte nichts. Alle Wörter, die er „dafür“ kannte, waren plötzlich verschwunden, es gab nur noch leere weiße Zettel, Platzhalter. Gab es irgendwo auf der Welt eine Sprache, die ein eigentliches Wort dafür hatte, nicht bloß eine Metapher? Da war etwas, das man nicht benennen konnte, etwas Unheimliches, etwas, das in der Sprache kein Heim gefunden hatte, etwas, das immer eine Seite der Rechnung offen ließ, unbeglichen. Ihm kam das Wort Schuld in den Sinn. Wer „es“ noch nicht getan hatte, war unschuldig, schuldete nichts, hatte für alles ein Wort, war quitt. „Es“ tun hieß, ein Papier in zwei Hälften zerreißen und die eine davon, diejenige, auf der das Wort stand, zu verlieren. Ohne diesen Riss gäbe es die Menschen nicht. Am liebsten, sagte Hagrit und zupfte ihn am Ärmel: Hörst du mir zu? – am liebsten sind mir die, die es noch nicht so oft gemacht haben, die sind dann noch etwas schüchtern, das gefällt mir. Später werden sie dann oft grob, so sind die Jungen, wenn sie denken, dass sie etwas wüssten. Aber sie wissen nichts, sonst könnten sie es ja auch sagen. Und wenn sie älter werden, bekommen sie auch Haare überall am Körper, was ich eklig finde. Die Kleinen sind mir lieber. Ich zeige ihnen dann, wie sie ihr Ding steif machen und in meine Spalte stecken. Manchmal sage ich Spalte, aber eigentlich nenne ich es mein Schmuckkästchen, weil eine Perle darin ist. Man nennt die Dinge, mit denen man es macht, so oder so. Einen richtigen Namen haben auch sie nicht. Wie nennt Abraham sein Ding? Er schwieg. Nichts als leere weiße Zettel. Soll ich dir mein Schmuckkästchen zeigen, fragte Hagrit. Er schüttelte den Kopf. Wo kann ich schlafen, fragte er. Sie setzte sich eine große schwarze Brille auf, zog eine Kladde irgendwo hervor, blätterte darin. Zimmer 16, sagte sie dann und gab ihm einen Schlüssel. Im Hotel Arizona.