Kein Opfer sein wollen

Am Anfang war ein Wort

In den vergangenen Tagen brach ein Sturm der Entrüstung bis hin zu öffentlichen Gewaltaufrufen über die Autorin Mithu Sanyal herein. Der Anlass: Bei einer Lesung aus ihrem Buch Vergewaltigung – Aspekte eines Verbrechens war sie von Zuhörerinnen gebeten worden, nicht von Opfern sexueller Gewalt zu sprechen sondern von Erlebenden. Dahinter steht der Wunsch von Betroffenen, nach ihrer Gewalterfahrung nicht auch noch durch eine negative Titulierung diskriminiert zu werden. Mithu Sanyal hat sich diese Standpunkt (wie auch schon in ihrem Buch) anschließend zueigen gemacht. Dann nahm der Shit-Storm seinen Lauf.

Ausbruch aus dem Opfer-Diskurs

Sich nicht als Opfer bezeichnen zu lassen, ist ein nachvollziehbarer Wunsch. Bereits in den 1980er Jahren wurde von Feministinnen darauf hingewiesen, dass der Opfer-Begriff die Dichotomie von „starkem“ und „schwachem“ Geschlecht fort- und die betroffenen Frauen in ihrer tradierten Rolle festschreibe. Prominent vertreten wird diese These von Judith Butler in ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter. Dieser Punkt wird um so bedeutender, wenn man sieht, dass sich um die Fälle von (sexualisierter) Gewalt eine Opferindustrie entwickelt hat, die zur guten Tat eben des hilflosen Opfers bedarf. Das mag zunächst zynisch klingen, ist aber das Ergebnis einer nüchternen Strukturanalyse. In der Zurückweisung des Opfer-Titels und der Wahl des neutralen Wortes Erlebende wird eine Distanzierung von diesen Strukturverhältnissen angestrebt und so etwas wie ein neutraler Grund gesucht. Ein wenig fühlt man sich dabei an den Holocaust-Überlebenden erinnert, der in einer Therapiesitzung gesagt haben soll: „Auschwitz made a man of me“ (Janet Malcom, The Freud Archives) und damit den Opferdiskurs radikal negierte und seine Mitmenschen maximal verstörte. So etwas passt nicht ins Bild. Aber man kann es verstehen. Zu sagen: „Ich habe fürchterliche Gewalt erlebt – aber ich bin ganz daraus herausgekommen“ ist eine legitime Haltung. Wenn ich schon nicht Macht über die Gewalt hatte, dann will ich wenigstens Macht über das Wort haben. Soweit das vernünftige Argument.

Vernunft unter Beschuss

Gegen dieses Argument, das wie gesagt eine jahrzehntelange Tradition hat, wurde nun im Netz mit Hasstiraden, Verunglimpfungen der Autorin Sanyal, Häme, Verwünschungen und was man sich noch alles an irrationalen Regungen vorstellen kann vorgegangen. Wenn man diese Reaktionen einmal aus ihrer psychologischen Engführung (also den Motiven der Einzelnen) befreit, dann zeigt sich, dass es mit einem Appell an das vernünftige Argumentieren nicht getan ist. Die irrationale Tirade lässt sich mithilfe der Vernunft nicht wieder einfangen, und wo das Argument im vernünftigen Diskurs bloß Methode ist, gerät es hier selbst unter Rechtfertigungszwang. Man kann nämlich die These vertreten, dass das vernünftige Argument am Ende auch nur ein Mittel ist, um die herrschenden Verhältnisse bzw. die Herrschaftverhältnisse zu stabilisieren – „Sei doch vernünftig!“ heißt nichts anderes als: „Ordne dich unter!“. Auch das hat Judith Butler gezeigt: Wie man beim Kampf gegen eine unterdrückerische Macht genötigt wird, sich die Methoden dieser Macht zueigen zu machen. Erleiden durch Erleben zu ersetzen könnte als solch eine sprachanalytische Finesse verstanden werden, mit der man im elaborierten (und etablierten) Diskurs punktet, aber nicht auf der Straße.

Legitimierter Hass?

Sind die Hasstiraden damit legitimiert? Nein. Denn man müsste zeigen können, dass der Verzicht auf das vernünftige Argument zugunsten des Shit-Storms die Strukturen der Welt zum Besseren verändert, dass die individuellen Motive der Pöbler/innen (Kränkung, Geltungssucht, Ideologie etc.) sich in ein kollektives Gutes ummünzen ließen. Abgesehen davon, dass kein historischer Fall bekannt ist, wo dem so gewesen wäre, auch logisch gelingt der Beweis nicht: Der Hass zielt auf Ausmerzung des Gehassten, weil er aber vernunftblind ist, kann er nicht eine unvoreingenomme Konzeption des Guten entwickeln – er läuft damit immer Gefahr, genau die falsche Hälfte der Menschheit umzubringen. Die Geschichtsbücher sind voll davon.

Fazit

Dass das vernünftige Argument im Shit-Storm selbst unter Druck gerät, ist für uns aufgeklärte, intellektuelle Menschen eine verstörende Erfahrung. Aber es ist eine notwendige. Denn sie nötigt uns, die Rolle der Vernunft (bzw. ihren Missbrauch) in der Festigung von Machtstrukturen zu hinterfragen – den herrschaftsfreien Diskurs, den Jürgen Habermas erträumte, hat es nie gegeben. Nur das Bewusstsein von der dunklen Seite der Macht des Arguments kann dem Hass den Boden entziehen.

Mehr zu Vernunft und Irrationalismus steht in meinen Büchern vögeln – eine Philosphie vom Sex und Trampelpfade des Denkens. Prosaisch habe ich mich dem Thema in meiner Erzählung Ein vernünftiges Gefühl gewidmet.